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Íàäååìñÿ, ÷òî ýòîò ñêàí ïîìîæåò âàì òàê æå êàê è íàì...

 

Klaus Mann - Mefisto

 

Alle Fehler des Menschen verzeih ich dem

Schauspieler, keine Fehler des Schauspielers

verzeih ich dem Menschen.

Goethe, «Wilhelm Meister»

Vorspiel

1936

In einem der westdeutschen Industriezentren sollen neulich über achthundert Arbeiter verurteilt worden sein, alle zu hohen Zuchthausstrafen, und das im Laufe eines einzigen Prozesses.»

«Nach meinen Informationen sind es nur fünfhundert gewesen; über hundert andere hat man erst gar nicht abgeurteilt, sondern heimlich umbringen lassen, ihrer Gesinnung wegen.»

«Sind die Löhne wirklich so entsetzlich schlecht?»

«Miserabel. Dabei fallen sie noch — und die Preise steigen.»

«Die Dekorierung des Opernhauses für heute abend soll sechzigtausend Mark gekostet haben. Dazu kommen mindestens noch vierzigtausend Mark andere Spesen — nicht mitgerechnet die Unkosten, die es der öffentlichen Kasse gemacht hat, das Opernhaus, wegen der Vorbereitungen für den Ball, fünf Tage lang geschlossen zu halten.»

«Eine nette kleine Geburtstagsfeier.»

«Ekelhaft, daß man den Rummel mitmachen muß.»

Die beiden jungen ausländischen Diplomaten verneigten sich, auf den Gesichtern das liebenswürdigste Lächeln, vor einem Offizier in großer Uniform, der hinter seinem Monokel einen mißtrauischen Blick auf sie geworfen hatte.

«Die ganze hohe Generalität ist da.» Sie sprachen erst wieder, als sie die große Uniform außer Hörweite wußten.

«Aber sie sind alle für den Frieden begeistert», fügte der andere boshaft hinzu.

«Wie lange noch?» fragte fröhlich lächelnd der erste, wobei er eine kleine Dame von der japanischen Botschaft begrüßte, die am Arm eines hünenhaften Marineoffiziers klein und zierlich einherschritt.

«Wir müssen auf alles gefaßt sein.»

Ein Herr vom Auswärtigen Amt gesellte sich zu den beiden jungen Botschaftsattaches, die sofort dazu über­gingen, Pracht und Schönheit der Saaldekoration zu preisen. «Ja, der Herr Ministerpräsident hat Freude an diesen Dingen», sagte, etwas verlegen, der Herr vom Auswärtigen Amt. — «Aber es ist alles geschmackvoll», versicherten die beiden jungen Diplomaten, beinah im gleichen Atem. — «Gewiß», sprach gequält der Herr aus der Wilhelmstraße. — «Eine so prachtvolle Veranstal­tung kann man heute nirgends als in Berlin finden», sag­te einer der beiden Ausländer noch. Der Herr vom Außenministerium zögerte eine Sekunde lang, ehe er sich zu einem, höflichen Lächeln entschloß.

Es entstand eine Gesprächspause. Die drei Herren blickten um sich und lauschten dem festlichen Lärm. «Kolossal», sagte schließlich einer von den beiden jungen Leuten leise — diesmal ohne jeden Sarkasmus, sondern wirklich beeindruckt, beinah verängstigt von dem riesen­haften Aufwand, der ihn umgab. Das Flimmern der von Lichtern und Wohlgerüchen gesättigten Luft war so stark, daß es ihm die Augen blendete. Ehrfurchtsvoll, aber mißtrauisch blinzelte er in den bewegten Glanz. ,Wo bin ich nur?' dachte der junge Herr — er kam aus einem der skandinavischen Länder —. ,Der Ort, an dem ich mich befinde, ist ohne Frage sehr lieblich und verschwen­derisch ausgestattet; dabei aber auch etwas grauenhaft. Diese schön geputzten Menschen sind von einer Munterkeit, die nicht gerade vertrauenerweckend wirkt. Sie bewegen sich wie die Marionetten — sonderbar zuckend und eckig. In ihren Augen lauert etwas, ihre Augen haben keinen guten Blick, es gibt in ihnen soviel Angst und soviel Grausamkeit. Bei mir zu Hause schau­en die Leute auf eine andere Art — sie schauen freund­licher und freier bei mir zu Hause. Man lacht auch anders bei uns droben im Norden. Hier haben die Gelächter etwas Höhnisches und etwas Verzweifeltes; etwas Freches, Provokantes, und dabei etwas Hoffnungsloses, schauerlich Trauriges. So lacht doch niemand, der sich wohl fühlt in seiner Haut. So lachen doch Männer und Frauen nicht, die ein anständiges, vernünftiges Leben führen...' —

Der große Ball zum dreiundvierzigsten Geburtstag des Ministerpräsidenten fand in allen Räumen des Opern­hauses statt. In den ausgedehnten Foyers, in den Cou­loirs und. Vestibülen bewegte sich die geputzte Menge. Sie ließ Sektpfropfen knallen in den Logen, deren Brü­stungen mit kostbaren Draperien behängt waren; sie tanz­te im Parkett, aus dem man die Stuhlreihen entfernt hat­te. Das Orchester, das auf der leergeräumten Bühne sei­nen Platz hatte, war umfangreich, als sollte es eine Sym­phonie aufführen, mindestens von Richard Strauss*. Es spielte aber nur, in keckem Durcheinander, Militärmär­sche und jene Jazzmusik"', die zwar wegen niggerhafter Unsittlichkeit verpönt war im Reiche, die aber der hohe Würdenträger auf seinem Jubelfeste nicht entbehren wollte.

Hier hatte alles sich eingefunden, was in diesem Lan­de: etwas gelten wollte, niemand fehlte — außer dem Diktator selbst, der sich wegen Halsschmerzen und an­gegriffener Nerven hatte entschuldigen lassen, und au­ßer einigen etwas plebejischen  Parteiprominenten, die nicht eingeladen worden waren. Hingegen bemerkte man mehrere kaiserliche und königliche Prinzen, viele Fürst­lichkeiten und fast den ganzen Hochadel; die gesamte Generalität der Wehrmacht, sehr viel einflußreiche Finan­ziers und Schwerindustrielle; verschiedene Mitglieder des diplomatischen Korps — meistens von den Vertre­tungen kleinerer oder weit entfernter Länder —; eini­ge Minister, einige berühmte Schauspieler — die huld­volle Schwäche des Jubilars für das Theater war bekannt — und  sogar einen  Dichter,  der sehr dekorativ aussah und übrigens die persönliche Freundschaft des Diktators genoß. Über zweitausend Einladungen waren verschickt worden; von diesen waren etwa tausend Ehrenkarten, die zum unentgeltlichen Genuß des Festes berechtigten; von den Empfängern der übrigen tausend hatte jeder fünfzig Mark Eintritt zahlen müssen: So kam ein Teil der unge­heueren Spesen wieder herein — der Rest blieb zu Lasten jener Steuerzahler, die nicht zum näheren Umgang des Ministerpräsidenten und also keineswegs zur Elite der neuen deutschen Gesellschaft gehörten,

«Ist es nicht ein wunderschönes Fest!» rief die um­fangreiche Gattin eines rheinischen Waffenfabrikanten der Frau eines südamerikanischen Diplomaten zu. «Ach, ich amüsiere mich gar zu gut! Ich bin so glänzender Lau­ne, und ich wünschte mir, daß alle Menschen in Deutsch­land, und überall, glänzender Laune würden!»

Die südamerikanische Diplomatenfrau, die nicht gut Deutsch verstand und sich langweilte, lächelte säuerlich.

Die muntere Gattin des Fabrikanten war von solchem Mangel an Enthusiasmus enttäuscht und entschloß sich dazu, weiter zu promenieren. «Entschuldigen Sie mich, meine Liebe!» sagte sie fein und raffte die glitzernde Schleppe. «Ich muß eben mal eine alte Freundin aus Köln begrüßen — die Mutter unseres Staatstheaterinten-danten, Sie wissen doch, des großen Hendrik Höfgen.» Hier tat die Südamerikanerin zum erstenmal den Mund auf, um zu fragen: «Who is Henrik Hopfgen?» — was die Fabrikantengattin veranlaßte, leise aufzuschreien: «Wie?! Sie kennen unseren Höfgen nicht? Höfgen, mei­ne Beste — nicht Hopfgen! Und Hendrik, nicht Hen­rik — er legt größten Wert auf das kleine ,d'!» Dabei war sie schon auf die distinguierte Matrone zugeeilt, die am Arme des Dichters und Führerfreundes würdevoll durch die Säle schritt. «Liebste Frau Bella! Es ist eine Ewigkeit her, daß man sich nicht gesehen hat! Wie geht es Ihnen denn, Liebste? Haben Sie manchmal Heimweh nach unserem Köln? Aber Sie befinden sich hier ja in einer so glänzenden Position! Und wie geht es Fräulein Josy, dem lieben Kind? Vor allem: Was macht Hendrik — Ihr großer Sohn! Himmel, was ist aus ihm alles gewor­den! Er ist ja fast so bedeutend wie ein Minister! Jaja, liebste Frau Bella, wir in Köln haben alle Sehnsucht nach Ihnen und Ihren herrlichen Kindern!»

In Wahrheit hatte sich die Millionärin niemals um Frau Bella Höfgen gekümmert, als diese noch in Köln gelebt und ihr Sohn die große Karriere noch nicht ge­macht hatte. Die Bekanntschaft zwischen den beiden Damen war nur eine flüchtige gewesen; niemals war Frau Bella eingeladen worden in die Villa des Fabrikanten. Nun aber wollte die lustige und gemütvolle Reiche die Hand der Frau, deren Sohn man zu den nahen Freunden des Ministerpräsidenten zählte, gar nicht mehr loslassen. Frau Bella lächelte huldvoll. Sie war sehr einfach, aber nicht ohne eine gewisse ehrbare Koketterie gekleidet; auf ihrer schwarzen, glatt fließenden Seidenrobe' leuchtete eine weiße Orchidee. Das graue, schlicht frisierte Haar bildete einen pikanten Kontrast zu ihrem ziemlich jung gebliebenen, mit dezenter Sorgfalt hergerichteten Ge­sicht. Aus weiten, grünblauen Augen schaute sie mit einer reservierten, nachdenklichen Freundlichkeit auf die geschwätzige Dame, die den lebhaften deutschen Kriegs­vorbereitungen ihr wundervolles Kollier', ihre langen Ohrgehänge, die Pariser Toilette und all ihren Glanz ver­dankte.

«Ich kann nicht klagen, es geht uns allen recht gut» sprach mit stolzer Bescheidenheit Frau Höfgen. «Josy hat sich mit dem jungen Grafen Donnersberg verlobt. Hendrik ist ein wenig überanstrengt, er hat rasend zu tun.»

«Das kann ich mir denken.» Die Industrielle schaute respektvoll.

«Darf ich Ihnen unseren Freund Cäsar von Muck vor­stellen», sagte Frau Bella.

Der Dichter neigte sich über die geschmückte Hand der reichen Dame, die sofort wieder zu schwätzen be­gann. «Ungeheuer interessant, ich freue mich wirklich, habe Sie sofort nach den Photographien erkannt. Ihr ,Tannenberg'-Drama habe ich in Köln bewundert, eine recht gute Aufführung, natürlich fehlen die überragen­den Leistungen, wie man sie in Berlin jetzt gewöhnt ist, aber wirklich recht anständig, ohne Frage sehr achtbar. Und Sie, Herr Staatsrat — Sie haben doch inzwischen eine so großartige Reise gemacht, alle Welt spricht von Ihrem Reisebuch, ich will es mir dieser Tage besorgen.»

«Ich habe viel Schönes und viel Häßliches gesehen in der Fremde», sagte der Dichter schlicht. «Jedoch reiste ich durch die Lande nicht nur als Schauender, nicht nur als Genießender, sondern mehr noch als Wirkender, Leh­render. Mich deucht((veraltet)  = 'mich dünkt  — den Anschein haben), es ist mir gelungen, dort draußen neue Freunde für unser neues Deutschland zu werben.» Mit seinen  stahlblauen Augen,  deren  durchdringende und feurige Reinheit in vielen Feuilletons gepriesen wurde, taxierte er den kolossalen Schmuck der Rhein­länderin. ,Ich könnte in ihrer Villa wohnen, wenn ich das nächste Mal in Köln einen Vortrag oder eine Premiere habe', dachte er, während er weitersprach: «Es ist für unseren geraden Sinn unfaßbar, wieviel Lüge, wieviel boshaftes Mißverständnis über unser Reich im Umlauf sind — draußen in der Welt.»

Sein Gesicht war so beschaffen, daß jeder Reporter es «holzgeschnitten» nennen mußte: zerfurchte Stirne, Stahlauge unter blonder Braue und ein verkniffener Mund, der leicht sächsischen Dialekt sprach. Die Waffenfabrikantin war sehr beeindruckt, von seinem Ausse­hen wie von seiner edlen Rede. «Ach», schaute sie ihn schwärmerisch an. «Wenn Sie einmal nach Köln kom­men, müssen Sie uns unbedingt besuchen!»

Staatsrat Cäsar von Muck, Präsident der Dichter­akademie und Verfasser des überall gespielten «Tannenberg»-Dramas, verneigte sich mit ritterlichem An­stand: «Es wird mir eine echte Freude sein, gnädige Frau.» Dabei legte er sogar die Hand aufs Herz.

Die Industrielle fand ihn wundervoll. «Wie köstlich es sein wird, Ihnen einen ganzen Abend zuzuhören, Exzellenz!» rief sie aus. «Was Sie alles erlebt haben müssen! Sind Sie nicht auch schon Staatstheaterinten­dant gewesen?»

Diese Frage wurde als taktlos empfunden, und zwar sowohl von der distinguierten Frau Bella als auch vom Autor der «Tannenberg»-Tragödie. Dieser sagte denn auch nur, mit einer gewissen Schärfe: «Gewiß.»

Die reiche Kölnerin merkte nichts. Vielmehr sprach sie noch, mit durchaus deplacierter Schelmerei: «Sind Sie denn da nicht ein klein bißchen eifersüchtig", Herr Staatsrat, auf unseren Hendrik, Ihren Nachfolger?» Nun drohte sie auch noch mit dem Finger. Frau Bella wußte nicht, wohin sie blicken sollte.

Cäsar von Muck aber bewies, daß er weltmännisch und überlegen war, und zwar in einem Grade, der an Edelmut grenzt. Über sein Holzschnittgesicht ging ein Lächeln, das nur in seinen ersten Anfängen etwas bitter schien, dann aber milde, gut und sogar weise wurde. «Ich habe diese schwere Last gerne — ja, von Herzen gerne an meinen Freund Höfgen abgegeben, der wie kein anderer berufen ist, sie zu tragen.» Seine Stimme bebte; er war stark ergriffen von der eigenen Großmut und von der Schönheit seiner Gesinnung.

Frau Bella, die Mutter des Intendanten, zeigte eine beeindruckte Miene; die Lebensgefährtin des Kano­nenkönigs aber war derartig gerührt von der edlen und majestätischen Haltung des berühmten Dramatikers, daß sie beinahe weinen mußte. Mit tapferer Selbstüberwin­dung schluckte sie die Tränen hinunter; tupfte sich die Augen flüchtig mit dem Seidentüchlein und schüttelte die weihevolle Stimmung mit einem sichtbaren Ruck von sich ab. In ihr siegte die typisch rheinische Munterkeit; sie schaute wieder strahlend und jubilierte: «Ist es nicht ein ganz herrliches Fest?!»

Es war ein ganz herrliches Fest, darüber konnte gar kein Zweifel bestehen. Wie das glitzerte, duftete, rausch­te! Gar nicht festzustellen, was mehr Glanzverbreitete: die Juwelen oder die Ordenssterne. Das verschwen­derische Licht der Kronleuchter spielte und tanzte auf den entblößten, weißen Rücken und den schön bemalten Mienen der Damen; auf den Specknacken, gestärkten Hemdbrüsten oder betreßten Uniformen feister Herren; auf den schwitzenden Gesichtern der Lakaien, die mit den Erfrischungen umherliefen. Es dufteten die Blu­men, die in schönem Arrangement verteilt waren, durch das ganze Lusthaus; es dufteten die Pariser Par­füms all der deutschen Frauen; es dufteten die Zigar­ren der Industriellen und die Pomaden der schlanken Jünglinge in ihren kleidsam knappen SS-Uniformen; es dufteten die Prinzen und die Prinzessinnen, die Chefs der Geheimen Staatspolizei, die Feuilletonchefs, die Filmdivas, die Universitätsprofessoren, die einen Lehr­stuhl für Rassen- oder Wehrwissenschaft innehatten, und die wenigen jüdischen Bankiers, deren Reichtum und internationale Beziehungen so gewaltig waren, daß man sie sogar an dieser exklusiven Veranstaltung teil­haben ließ. Man verbreitete Wolken künstlichen Wohl­geruchs, als gälte es, ein anderes Aroma nicht aufkom­men zu lassen — den faden, süßlichen Gestank des Blu­tes, den man zwar liebte und von dem das ganze Land erfüllt war, dessen man sich aber bei so feinem Anlaß und in Gegenwart der fremden Diplomaten ein wenig schämte.

«Tolle Sache», sagte ein hoher Herr von der Reichs­wehr zum anderen. «Was der Dicke sich alles leistet!»

«Solange wir es uns gefallen lassen», sagte der zweite. Sie machten gutgelaunte Gesichter; denn sie wurden photographiert.

«Lotte soll ein Kleid anhaben, das dreitausend Mark kostet», erzählte eine Filmschauspielerin dem Hohenzollernprinzen*, mit dem sie tanzte. Lotte war das Eheweib des Gewaltigen mit den vielen Titeln, der sich zu seinem dreiundvierzigsten Geburtstag feiern ließ wie ein Mär­chenprinz. Lotte war eine Provinzschauspielerin gewesen und galt als herzensgute, schlichte, urdeutsche Frau. An ihrem Hochzeitstage hatte der Märchenprinz zwei Prole­ten hinrichten lassen.

Der Hohenzollernprinz sagte: «Einen solchen Auf­wand hat meine Familie niemals getrieben. — Wann wird das hohe Paar denn übrigens Einzug halten? Unsere Erwartung soll wohl auf das äußerste gesteigert werden!» «Lottchen versteht's», meinte sachlich die ehemalige Kollegin der Landesmütter. —

Ein ausgesprochen herrliches Fest: Alle Anwesenden schienen es aufs intensivste zu genießen, sowohl die mit den Ehrenkarten als auch die anderen, die fünfzig Mark hatten zahlen müssen, um dabeisein zu dürfen. Man tanzte, schwatzte, flirtete; man bewunderte sich selber, die anderen und am meisten die Macht, die sich so üp­pige Veranstaltungen wie diese gönnen durfte. In den Logen und Wandelgängen, an den verführerischen Bü­fetts waren die Konversationen sehr lebhaft. Man disku­tierte über die Toiletten der Damen, über das Vermögen der Herren und über die Preise, welche die Wohltätig­keitstombola bringen würde: Als das wertvollste Stück wurde ein Hakenkreuz aus Brillanten genannt, etwas sehr Niedliches und Teures, als Brosche oder als Anhänger an einem Kollier zu tragen. Eingeweihte wollten wissen, daß es auch höchst amüsante Trostpreise geben würde, zum Beispiel naturgetreu nachgebildete Tanks und Maschi­nengewehre   aus   Lübecker   Marzipan*.   Einige   Damen behaupteten launig, daß sie noch lieber ein Mordinstru­ment aus so süßem Stoff haben wollten als das kostbare Hakenkreuz.   Es wurde viel und  herzlich  gelacht.   Mit gedämpfteren Stimmen besprach man sich über die poli­tischen Hintergründe der Veranstaltung. Es fiel auf, daß der Diktator abgesagt hatte und mehrere Parteipromi­nente nicht eingeladen worden waren;  daß man aber Mitglieder der fürstlichen Familien in so großer Anzahl anwesend sah. An diesen Umstand knüpften sich man­cherlei dunkle und bedeutungsvolle Gerüchte, die man sich im Flüstertöne weitergab. Auch über den Gesund­heitszustand des Diktators wollte der oder jener finstere Neuigkeiten wissen; man besprach sie leise und lei­denschaftlich, sowohl im Kreise der auswärtigen Pres­severtreter und Diplomaten als auch bei den Herren von der Reichswehr und der Schwerindustrie.

«Es scheint also doch Krebs zu sein», berichtete hinter vorgehaltenem Taschentuch ein Herr von der englischen Presse dem Pariser Kollegen. Bei diesem aber war er an den Falschen geraten. Pierre Larue hatte das Aussehen eines höchst gebrechlichen, dabei recht tückischen Zwer­ges; schwärmte aber für den Heroismus und für die schö­nen uniformierten Burschen des neuen Deutschland. Übrigens war er kein Journalist, sondern ein reicher Mann, der verklatschte Bücher über das gesellschaftli­che, literarische und politische Leben der europäischen Hauptstädte schrieb und dessen Lebensinhalt es bedeu­tete, berühmte Bekanntschaften zu sammeln. Dieser ebenso groteske wie anrüchige kleine Kobold, mit dem spitzen Gesichtchen und der lamentierenden Fistelstim­me einer kränklichen alten Dame, verachtete die Demo­kratie seines eigenen Landes und erklärte jedem, der es hören wollte, daß er Clemenceau* für einen Schurken und Briand* für einen Idioten halte, jeden höheren Gestapobeamten jedoch für einen Halbgott und die Spit­zen des neudeutschen Regimes für eine Garnitur von tadellosen Göttern.

«Was verbreiten Sie für infamen Unsinn, mein Herr!» Das Männchen schaute erschreckend boshaft; seine Stim­me raschelte dürr wie gefallenes Laub. «Der Gesund­heitszustand des Führers läßt nichts zu wünschen übrig. Fr ist nur ein bißchen erkältet.»

Diesem kleinen Scheusal war es zuzutrauen, daß er hinging und denunzierte. Der englische Korrespondent wurde nervös; er versuchte, sich zu rechtfertigen: «Ein italienischer Kollege hat mir im Vertrauen so etwas an­gedeutet...» Aber der schmächtige Liebhaber prall ge­füllter Uniformen schnitt ihm mit Strenge das Wort ab: «Genug, mein Herr! Ich will nichts mehr hören! Das ist alles unverantwortliches Geschwätz! — Entschuldigen Sie», fügte er sanfter hinzu. «Ich muß den Exkönig von Bulgarien begrüßen. Die Prinzessin von Hessen ist bei ihm, ich habe die Bekanntschaft Ihrer Hoheit am Hofe ihres Vaters in Rom gemacht.» Er rauschte davon, die bleichen und spitzen Händchen auf der Brust gefaltet, in der Haltung und mit dem Gesichtsausdruck eines intri­ganten Abbes. Der Engländer murmelte hinter ihm her: «Damned snob.»

Eine Bewegung ging durch den Saal, es gab ein hörbares Rauschen: Der Propagandaminister war einge­treten. Man hatte ihn heute abend nicht hier erwartet, alle wußten um seine gespannte Beziehung zu dem fet­ten Geburtstagskind — das sich übrigens seinerseits noch immer verborgen hielt, um aus seinem Entree"' dann den ganz großen Clou zu machen.

Der Propagandaminister — Herr über das geistige Leben eines Millionenvolkes — humpelte behende durch die glänzende Menge, die sich vor ihm verneigte. Eine eisige Luft schien zu wehen, wo er vorbeiging. Es war, als sei eine böse, gefährliche, einsame und grausame Gott­heit herniedergestiegen in den ordinären Trubel ge­nußsüchtiger, feiger und erbärmlicher Sterblicher. Einige Sekunden lang war die ganze Gesellschaft wie gelähmt von Entsetzen. Die Tanzenden erstarrten mitten in ihrer anmutigen Pose, und ihr scheuer Blick hing, zugleich demütig und haßvoll, an dem gefürchteten Zwerg. Der versuchte durch ein charmantes Lächeln, welches seinen mageren, scharfen Mund bis zu den Ohren hinaufzerr­te, die schauerliche Wirkung, die von ihm ausging, ein wenig zu mildern; er gab sich Mühe, zu bezaubern, zu versöhnen und seine tiefliegenden, schlauen Augen freundlich blicken zu lassen. Seinen Klumpfuß graziös hinter sich her ziehend, eilte er gewandt durch den Fest­saal und zeigte dieser Gesellschaft von zweitausend Skla­ven, Mitläufern, Betrügern, Betrogenen und Narren sein falschbedeutendes Raubvogelprofil. An den Gruppen von Millionären, Botschaftern, Divisionskommandanten und Filmstars huschte er, tückisch lächelnd, vorüber. Es war der Intendant Hendrik Höfgen, Staatsrat und Sena­tor, bei welchem er stehenblieb.

Noch eine Sensation! Intendant Höfgen gehörte zu den deklarierten Favoriten des Ministerpräsidenten und Fliegergenerals, der seine Berufung an die Spitze der Staatstheater durchgesetzt hatte gegen den Willen des Propagandaministers. Dieser war, nach einem langen und heftigen Kampf, dazu gezwungen worden, seinen eigenen Protege', den Dichter Cäsar von Muck, zu opfern und auf Reisen zu schicken. Nun aber ehrte er demonstrativ das Geschöpf seines Feindes durch seine Begrüßung und durch sein Gespräch. Wollte der schlaue Meister der Propaganda auf solche Weise vor der inter­nationalen Elitegesellschaft bekunden, daß es Unstim­migkeiten und Ränke zwischen den Spitzen des deut­schen Regimes gar nicht gebe und daß die Eifersucht zwischen ihm, dem Reklamechef, und dem Fliegergene­ral ins häßliche Gebiet der Greuelmärchen gehöre? Oder war Hendrik Höfgen — eine der meistbesprochenen Figuren der Hauptstadt — seinerseits so unermeßlich schlau, daß er es fertigbrachte, zum Propagandaminister ebenso intime Beziehungen zu unterhalten wie zum Flie­gergeneral — Ministerpräsidenten? Spielte er den einen Machthaber gegen den anderen aus, ließ sich von den beiden großen Konkurrenten protegieren? Seiner le­gendären Geschicklichkeit wäre es zuzutrauen...

Das war ja alles ungeheuer interessant! Pierre Larue ließ den Exkönig von Bulgarien einfach stehen und trip­pelte durch den Saal — von seiner Neugierde dahinge weht wie eine Feder vom Winde —, um dieses sensatio­nelle Renkontre aus der nächsten Nähe mit anzu­schauen, Cäsar von Mucks stählerne Augen kniffen sich mißtrauisch zusammen, die Millionärin aus Köln stöhnte wollüstig vor lauter Angeregtheit und Freude an der erhabenen Situation; während Frau Bella Höfgen, die Mutter des großen Mannes, allen, die in ihrer Nähe stan­den, gnädig und gleichsam ermunternd zulächelte, als wollte sie ihnen bedeuten: Mein Hendrik ist groß, und ich bin seine distinguierte Mutter. Trotzdem braucht ihr nun nicht gleich in die Knie zu sinken. Er und ich, wir sind auch nur von Fleisch und Blut, wenngleich sonst ausgezeichnet vor den übrigen Menschen.

«Wie geht es Ihnen, mein lieber Höfgen?» fragte der Propagandaminister anmutig lächelnd den Intendanten. Auch der Intendant lächelte, aber nicht gleich bis zu den Ohren hinauf, sondern mit einer Vornehmheit, die fast schmerzlich wirkte. «Ich danke Ihnen, Herr Mini­ster!» Er sprach leise, etwas singenden Tones, dabei äußerst akzentuiert-. Der Minister hatte seine Hand noch immer nicht losgelassen. «Darf ich mich nach dem Befin­den Ihrer Frau Gemahlin erkundigen», sagte der Inten­dant, und nun mußte sein hoher Gesprächspartner end­lich ein ernstes Gesicht machen. «Sie ist heute abend ein wenig unpäßlich.» Dabei ließ er die Hand des Senators und Staatsrats los. Dieser sagte wehmütig: «Wie leid mir das tut.»

Natürlich wußte er — was allen hier im Saale bekannt war —, daß die Frau des Propagandaministers völlig ver­zehrt und innerlich verwüstet war von Eifersucht auf die Gattin des Ministerpräsidenten. Da der Diktator selber unverehelicht blieb, war das angetraute Weib des Rekla­mechefs die Erste Dame im Reiche gewesen, und sie hat­te diese ihre gottgewollte Funktion mit Anstand und Würde erfüllt, ihr Todfeind konnte es nicht bestreiten. Dann aber kam diese Lotte Lindenthal daher, eine mittt-lere Schauspielerin — jung war sie auch nicht mehr -—, und ließ sich heiraten von dem prachtliebenden Dicken. Die Frau des Propagandaministers litt unbeschreiblich. Man machte ihr den Rang der Ersten Dame streitig! Eine andere drängte sich vor! Mit einer Komödiantin ward ein Kult getrieben, als ob die Königin Luise* auferstanden wäre! Immer wenn es eine Veranstaltung zu Lottes Ehren gab, ärgerte sich Frau Reklamechef so ungeheuer, daß sie Migräne bekam. Auch heute abend war sie im Bett ge­blieben.

«Gewiß hätte sich Ihre Frau Gemahlin hier sehr gut unterhalten.» Höfgen machte immer noch die feierliche Miene. In seinen Worten war von Ironie keine Spur zu finden. «Zu schade, daß der Führer absagen mußte. Auch der englische und der französische Botschafter sind ver­hindert.»

Mit diesen Feststellungen, die er in sanftestem Tone vorbrachte, verriet Höfgen seinen eigentlichen Freund und Gönner — den Ministerpräsidenten, dem er all sei­nen Glanz zu danken hatte — an den eifersüchtigen Pro­pagandaminister. Diesen aber hielt er sich für alle Fälle in der Reserve.

Der gewandte Klumpfuß fragte vertraulich, nicht ohne Hohn: «Und wie ist hier die Stimmung?»

Der Intendant der Staatstheater sagte zurückhaltend: «Man scheint sich zu amüsieren.»

Die beiden Würdenträger führten ihre Unterhaltung leise; denn um sie drängten sich Neugierige, auch meh­rere Photographen waren herbeigekommen. Die Kano-nenfabrikantin flüsterte eben Pierre Larue zu, der in Ver­zückung die bleichen Knochenhändchen über der Brust gegeneinander rieb: «Unser Intendant und der Mini­ster — sind sie nicht ein herrliches Paar? Beide so be­deutend! Beide so schön!» Sie drängte ihren üppigen, geschmückten Leib nahe an das gebrechliche Körper­chen des Kleinen.  Der zarte gallische*  Liebhaber des germanischen Heroismus, der strammen Jünglinge, des Führergedankens und der hohen Adelsnamen fürchtete sich vor der atmenden Nähe soviel weiblichen Fleisches. Er versuchte, sich ein wenig zurückzuziehen, während er zirpte: «Exquisit! Ganz charmant! Unvergleichlich!» Die Rhemländerin beteuerte: «Unser Höfgen — das ist ein ganzer Mann, sage ich Ihnen! Ein Genie, so etwas gibt es weder in Paris noch in Hollywood! Und so urdeutsch, so gerade, einfach und ehrlich! Ich habe ihn ja schon ge­kannt, als er noch so klein gewesen ist.» Mit der vorge­streckten Hand deutete sie an, wie klein Hendrik gewe­sen war, als sie, die Millionärin, seine Mutter auf den Kölner   Wohltätigkeitsveranstaltungen   konsequent   ge­schnitten hatte. «Ein herrlicher Junge!» sagte sie noch und bekam so sinnliche Augen, daß Larue panisch die Flucht ergriff.

Man hätte Hendrik Höfgen für einen Mann von etwa fünfzig Jahren gehalten; er war aber erst neunund­dreißig — ungeheuer jung für seinen hohen Posten. Seine fahle Miene mit der Hornbrille zeigte jene stei­nerne Ruhe, zu der sich sehr nervöse und sehr eitle Men­schen zwingen können, wenn sie sich von vielen Leuten beobachtet wissen. Sein kahler Schädel hatte edle Form. Im aufgeschwemmten, grauweißen Gesicht fiel der überan­strengte, empfindliche und leidende Zug auf, der von den hochgezogenen blonden Brauen zu den vertieften Schläfen lief; außerdem die markante Bildung des star­ken Kinns, das er auf stolze Art hochgereckt trug, so daß die vornehm schöne Linie zwischen Ohr und Kinn kühn und herrisch betont ward. Auf seinen breiten und blassen Lippen lag ein erfrorenes, vieldeutiges, zugleich höhni­sches und um Mitleid werbendes Lächeln. Hinter den großen, spiegelnden Brillengläsern wurden seine Augen nur zuweilen sichtbar und wirksam: Dann erkannte man, nicht ohne Schrecken, daß sie, bei aller Weichheit, eis­kalt, bei aller Melancholie sehr grausam waren. Diese grüngrau schillernden Augen ließen an Edelsteine den­ken, die kostbar sind, aber Unglück bringen; gleichzeitig an die gierigen Augen eines bösen und gefährlichen Fisches. — Alle Damen und die meisten Herren fanden, daß Hendrik Höfgen nicht nur ein bedeutender und höchst geschickter, sondern auch ein bemerkenswert schöner Mann sei. Seine zusammengenommene, vor lau­ter bewußter und berechneter Anmut fast steife Haltung und sein kostbarer Frack ließen es übersehen, daß er ent­schieden zu fett war, vor allem in der Hüftengegend und am Hinterteil.

«Ich muß Ihnen übrigens zu Ihrem Hamlet* gratulie­ren, mein Lieber», sprach der Propagandaminister. «Eine famose Leistung. Die deutsche Bühne kann stolz auf sie sein.»

Höfgen neigte ein wenig das Haupt, indem er das schöne Kinn etwas nach unten drückte: Oberhalb des hohen, blendenden Kragens entstanden zahlreiche Fal­ten am Hals. «Wer vor dem Hamlet versagt, verdient den Namen eines Schauspielers nicht.» Seine Stimme klagte vor Bescheidenheit. Der Minister konnte eben noch kon­statieren: «Sie haben die Tragödie ganz gefühlt» — da ging ein ungeheurer Aufruhr durch den Saal.

Der Fliegergeneral und seine Gattin, die gewesene Aktrice Lotte Lindenthal, waren durch die große Mittel­türe eingetreten: Brausendes Beifallsklatschen und dröh­nender Zuruf begrüßten sie. Durch ein Spalier von Men­schen, aus dem Jubel stieg, schritt das erlauchte Paar. Kein Kaiser hatte jemals schöneren Einzug gehalten. Der Enthusiasmus schien ungeheuer: Jeder von den zweitau­send auserlesen feinen Menschen wollte sich, den ande­ren und dem Ministerpräsidenten durch möglichst lautes Geschrei und Händeklatschen beweisen, einen wie glühenden Anteil er am dreiundvierzigsten Geburtstag des Hohen Herrn im besonderen und am Nationalen

 

(çäåñü ñêàí âðåìåííî îáðûâàåòñÿ: ñòðàíèöû 25-35 âðåìåííî îòñóòñòâóþò)

 

Alle sprachen über Dora Martin, jeder hatte seine eigene Ansicht über den Rang ihrer Leistung; nur darüber, daß sie entschieden zuviel Geld verdiente, waren alle sich einig.

Die Motz erklärte: «Au dieser Starwirtschaft geht das deutsche Theater zugrunde» —wozu ihr Freund Petersen  grimmig nickte. Petersen war Väterspieler mit dem Ehr­geiz zum Heroischen; er bevorzugte Könige oder adlige alte Haudegen in historischen Stücken.  Leider war er etwas zu klein und dick für diese Partien — was er aus-  zugleichen suchte durch eine stramme und kampfeslu­stige Haltung. Zu seinem Gesicht, das den Ausdruck fal- scher Biederkeit zeigte, hätte ein grauer Schifferbart ge- paßt; da er fehlte, wirkte seine Miene ein wenig kahl, mit der langen, rasierten Oberlippe und den sehr blauen, ausdrucksvoll blitzenden, zu kleinen Augen. Die Motz  liebte ihn mehr als er sie: das wußten alle. Da er genickt hatte, wandte sie sich nun direkt an ihn, um in einem intimen und bedeutungsvollen Ton zu sagen: «Nicht wahr, Petersen: über diese Mißwirtschaft haben wir schon häufig miteinander gesprochen?»  Er bestätigte treuherzig: «Gewiß doch, Frau!» und blinzelte Rahel Mohrenwitz zu, die aufgemacht war als das perverse und dämonische junge Mädchen: mit schwarzen Ponys bis zu den rasier- ten Augenbrauen und einem großen, schwarzgerandeten Monokel im Gesicht, das übrigens kindlich, pausbäckig und völlig ungeformt war.

«In Berlin wirken die Martinschen Mätzchen1 vielleicht»,  sprach die Motz resolut. «Aber unsereinem kann sie nichts vormachen, wir sind schließlich lauter alte Thea­terhasen-.» Sie blickte beifallheischend um sich. Ihr Fach war die komische Alte; zuweilen durfte sie auch reife Salondamen spielen. Sie lachte gern, viel und laut, wobei  sie scharfe Falten um den Mund bekam, in dessen Inne-rem Gold funkelte. Im Augenblick freilich zeigte sie eine würdevoll ernste, beinah zornige Miene.

Rahel Mohrenwitz sagte, wobei sie hochmütig mit ihrer langen Zigarettenspitze spielte: «Niemand kann schließlich leugnen, daß die Martin irgendwo eine enorm starke Persönlichkeit ist. Was sie auf der Bühne auch macht: immer ist sie unerhört intensiv da — ihr ver­steht, was ich meine...» Alle verstanden es; die Motz aber schüttelte mißbilligend den Kopf, während die kleine Angelika Siebert mit ihrem hohen, schüchternen Stim­mchen erklärte: «Ich bewundere die Martin. Es geht eine zauberhafte Kraft von ihr aus, finde ich...» Sie wurde sehr rot, weil sie einen so langen und gewagten Satz vor­gebracht hatte. Alle sahen mit einer gewissen Rührung zu ihr hin. Die kleine Siebert war reizend. Ihr Köpfchen mit dem kurzgeschnittenen, links gescheitelten blonden Haar glich dem eines dreizehnjährigen Buben. Ihre hel­len und unschuldigen Augen wurden dadurch nicht weniger anziehend, daß sie kurzsichtig waren: manche fanden, daß gerade die Art, auf die Angelika beim Schauen die Augen zusammenkniff, ihren besonderen Charme ausmache.

«Unsere Kleine schwärmt wieder einmal», sagte der schöne Rolf Bonetti und lachte etwas zu laut. Er war jenes. Mitglied des Ensembles, das die meisten Liebes­briefe aus dem Publikum erhielt: daher sein stolzer, müder, vor lauter Blasiertheit beinah angewiderter Ge-sichtsausdmck. Der kleinen Angelika gegenüber jedoch war er der Werbende: schon seit längerem bemühte er sich um sie. Auf der Bühne durfte er sie oft in den Ar­men halten, das brachte sein Rollenfach mit sich. Im üb­rigen aber blieb sie spröde. Mit einer wunderlichen Hart­näckigkeit verschenkte sie ihre Zärtlichkeit nur dorthin, wo nicht die mindeste Aussicht bestand, daß man sie erwiderte oder auch nur wünschte. Rührend und begeh­renswert, wie sie war, schien sie ganz dafür gemacht, viel geliebt und sehr verwöhnt zu werden. Der sonderbare Eigensinn ihres Herzens aber ließ sie kühl und spöttisch bleiben vor Rolf Bonettis stürmischen Beteuerungen, und  ließ sie bitterlich weinen über die eisige Gering-Schätzung, die Hendrik Höfgen ihr gegenüber an den' Tag legte.

Rolf Bonetti sagte kennerhaft: «Als Frau kommt diese Martin jedenfalls gar nicht in Frage: ein unheimlicher Zwitter — sicher hat sie so etwas wie Fischblut in den Adern.»

«Ich finde sie schön», sagte Angelika, leise aber ent­schlossen. «Sie ist die schönste Frau, finde ich.» Schon standen ihr die Augen voll Tränen: Angelika weinte häu­fig, auch ohne besonderen Anlaß. Träumerisch sagte sie noch: «Es ist merkwürdig" — ich spüre irgendeine ge­heimnisvolle Ähnlichkeit zwischen Dora Martin und Hendrik...» Dies erregte allgemeine Verwunderung.

«Die Martin ist eine Jüdin.» Es war der junge Hans Miklas, der sich unvermittelt so vernehmen ließ. Alle schauten betroffen und etwas angewidert zu ihm hin. — «Der Miklas ist köstlich», sprach die Motz in ein betre­tenes Schweigen hinein und versuchte zu lachen. Kro-ge runzelte   die  Stirne,   verwundert   und  degoutiert1, während Frau von  Herzfeld nur den Kopf schütteln konnte; übrigens war sie blaß geworden. Da die Pause lang und peinlich wurde — der junge Miklas stand bleich und trotzig an die Theke gelehnt —, sagte Direktor Kro-ge schließlich ziemlich scharf: «Was soll denn das?» und machte ein Gesicht, so böse, wie es ihm eben möglich war. Ein anderer junger Schauspieler, der sich bis dahin leise mit Vater Hansemann unterhalten  hatte,  sagte' forsch und versöhnlich: «Hoppla, das ist danebengegan­gen! Laß nur, Miklas, so was kann vorkommen, du bist sonst ein ganz braves Kind!» Dabei klopfte er dem Übel­täter auf die Schulter und lachte so herzlich, daß alle ein­stimmen konnten; sogar Kroge entschloß sich zu einer Heiterkeit, die freilich krampfhaften Charakter hatte: er schlug sich, mit der flachen Hand auf den Schenkel und warf den Oberkörper nach vorne, so heftig schien er sich plötzlich zu amüsieren. Miklas aber blieb ernst; er drehte das verstockte, bleiche Gesicht zur Seite, die Lippen böse aufeinandergepreßt. «Sie ist doch eine Jüdin.» Er sprach leise, daß fast niemand es hören konnte; nur Otto Ulrichs, der gerade erst durch seine Unbefangenheit die Situation gerettet hatte, hörte es, und nun strafte er ihn mit einem ernsten Blick.

Nachdem Direktor Kroge durch sein Gelächter aus­führlich bekundet hatte, daß er die Entgleisung des jun-gen Miklas durchaus von der komischen Seite nahm, winkte er Ulrichs. «Ach, Ulrichs, kommen Sie doch bitte mal einen Augenblick!» Ulrichs setzte sich an den Tisch zu den Direktoren und Frau von Herzfeld.

<Ich will mich nicht in Ihre Angelegenheiten mischen, wirklich nicht.» Kroge ließ es sich anmerken, daß die Sa­che ihm äußerst peinlich war. «Aber es kommt jetzt im­mer häufiger vor, daß Sie in kommunistischen Versamm­lungen auftreten. Gestern haben Sie schon wieder ir­gendwo mitgemacht. Das schadet Ihnen doch, Ulrichs, und uns schadet es auch.» Kroge sprach leise. «Sie wissen doch, wie die bürgerlichen Zeitungen sind, Ulrichs», sag­te er eindringlich. «Suspekt1 sind wir den Leuten ohne­dies. Wenn eines unserer Mitglieder sich nun politisch exponiert — es kann verhängnisvoll für uns sein, Ulrichs.» Kroge trank sehr hastig seinen Kognak aus, er war sogar etwas rot geworden.

Ulrichs antwortete ruhig; «Es ist mir sehr erwünscht, Herr Direktor, daß Sie von diesen Dingen zu mir spre­chen. Natürlich habe ich auch schon über sie nachge­dacht. Vielleicht ist es besser, wir trennen uns, Herr Di­rektor — glauben Sie mir, daß es mir nicht leichtfällt, diesen Vorschlag zu machen. Aber auf meine politische Betätigung kann ich nicht verzichten. Ihr müßte ich sogar mein Engagement2 opfern, und das wäre ein Opfer; denn ich bin gerne hier.» Er sprach mit einer angeneh­men, dunklen und warmen Stimme. Während er redete, schaute Kroge mit einer väterlichen Sympathie auf sein intelligentes, kraftvolles Gesicht. Otto Ulrichs war ein gut aussehender Mann. Seine hohe, freundliche Stirn, von der das schwarze Haar weit zurückwich, und die engen 1 dunkelbraunen, gescheiten und lustigen Augen flößten Vertrauen ein. Kroge mochte ihn sehr. Deshalb wurde er jetzt beinahe zornig.

«Aber Ulrichs!» rief er aus. «Davon kann doch gar kei­ne Rede sein. Sie wissen ganz genau, daß ich Sie niemals I fortlassen würde!»

«Wir können Sie gar nicht entbehren!» fügte Schmitz;.« hinzu — der dicke Mensch überraschte zuweilen durch eine | merkwürdig vibrierende, helle und hübsche Stimme —; wozu die Herzfeld ernst bestätigend nickte.

«Es ist doch nur ein klein bißchen Zurückhaltung,« worum ich Sie bitte», versicherte Kroge.

Ulrichs sagte mit Herzlichkeit: «Ihr seid alle sehr nett zu mir — wirklich sehr nett — und ich werde mir Mühe« geben, daß ich euch nicht gar zu sehr kompromittiere.» ] Die Herzfeld lächelte ihm vertraulich zu. «Es ist Ihnen ja wohl nicht ganz unbekannt», sagte sie leise, «daß wir po- litisch weitgehend mit Ihnen sympathisieren.» — Der Mann, mit dem sie in Frankfurt verheiratet gewesen war und dessen Namen sie führte, war Kommunist. Er war viel jünger als sie und hatte sie verlassen. Zur Zeit arbei­tete er in Moskau als Filmregisseur.

«Weitgehend!» betonte Kroge mit lehrhaft erhobenen« Zeigefinger.   «Wenngleich   nicht   ganz,   nicht   in   allen Stücken. Nicht alle unsere Träume haben sich in Moskau erfüllt. Können die Träume, die Forderungen, die Hoff-nungen der Geistigen sich erfüllen unter der Diktatur?» Ulrichs antwortete ernst, wobei seine engen Augen noch schmaler wurden und einen beinahe drohenden Blick bekamen:  «Nicht nur die Geistigen — oder die, welche sich so nennen — haben ihre Hoffnungen und Forderungen. Noch dringlicher sind die Forderungen des Proletariats. Diese waren, so wie die Welt heute ist, nur zu erfüllen mittels der Diktatur.» Hier zeigte Direktor Schmitz ein bestürztes Gesicht:  Ulrichs, um dem  Ge­räch eine leichtere Wendung zu geben, sagte lächelnd: «Übrigens wäre auf der Versammlung gestern das Künst-lertheater beinah durch sein prominentestes Mitglied repräsentiert worden. Hendrik wollte eigentlich auftreten — im letzten Augenblick ist er dann leider verhindert ge­wesen.»

«Höfgen wird immer im letzten Augenblick verhindert sein, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, die bedenklich für seine Karriere werden könnten.» Kroge hatte verächtlich den Mund verzogen, während er dies sagte. Hedda von Herzfeld sah ihn flehend und kum­mervoll an. Als aber Otto Ulrichs mit Überzeugung äu­ßerte: «Hendrik gehört zu uns», wiederholte Ulrichs. «Und er wird das durch die Tat beweisen. Seine Tat wird das Revolutionäre Theater sein. In diesem Monat soll es eröffnet werden.»

«Noch ist es nicht eröffnet.» Kroge lächelte boshaft. «Zunächst ist nur das Briefpapier da, mit der schönen Überschrift Revolutionäres Theater'. Nehmen wir aber sogar einmal an, es kommt zur Eröffnung: Glauben Sie, Höfgen wird sich heraustrauen mit einem wirklich revo­lutionären Stück?»

Ziemlich heftig erwiderte Ulrichs: «In der Tat glaube ich das! Übrigens ist das Stück ja schon ausgesucht — man kann wohl sagen, daß es ein revolutionäres ist.»

Kroge machte, mit der Miene und Gebärde eines mü­den und verächtlichen Zweifels: «Wir werden ja sehen.» Hedda von Herzfeld, die bemerkte, daß Ulrichs rot wur­de vor Ärger, fand es geraten, nunmehr das Thema zu wechseln.

«Was war das eigentlich vorhin für eine phantastische kleine Äußerung von diesem Miklas? Stimmt es also doch, daß der Bursche Antisemit ist und mit den Natio­nalsozialisten zu tun hat?» Bei dem Wort «Nationalsozia­listen» verzerrte sich ihr Gesicht vor Ekel, als hätte sie eine tote Ratte berührt. Schmitz lachte verächtlich, wäh­rend Kroge sagte: «So einen können wir gerade gebrau-chen!» Ulrichs versicherte sich durch einen Seitenblick, daß Miklas ihnen nicht zuhörte, ehe er mit gedämpfter Stimme erklärte:

«Hans ist im Grunde ein guter Kerl — ich weiß das denn ich habe mich oft mit ihm unterhalten. Mit so ei­nem Jungen muß man sich viel und nachsichtig beschäf­tigen — dann gewinnt man ihn vielleicht noch für die gute Sache. Ich glaube nicht, daß er für uns schon ganz verloren ist. Seine Aufsässigkeit, seine allgemeine Unzu­friedenheit sind falsch gelandet — verstehen Sie, was ich meine?» Frau Hedda nickte; Ulrichs flüsterte eifrig: «In so einem jungen Kopf ist alles wirr, alles ungeklärt — es laufen ja heute Millionen herum wie dieser Miklas. Bei denen gibt es vor allem einen Haß, und der ist gut, denn er gilt dem Bestehenden. Aber dann hat so ein Bursche Pech und fällt den Verführern in die Hände, und die ver­derben seinen guten Haß. Sie erzählen ihm, an allem Übel seien die Juden schuld, und der Vertrag von Ver­sailles*, und er glaubt den Dreck und vergißt, wer eigent­lich die Schuldigen sind, hier und überall. Das ist das be-rühmte Ablenkungsmanöver, und bei all diesen jungen Wirrköpfen, die nichts wissen und nicht richtig nach­denken können, hat es Erfolg. Da sitzt dann so ein Häuf­chen Unglück und läßt sich Nationalsozialist schimpfen!» Sie schauten alle vier zu Hans Miklas hin, der an ei­nem kleinen Tisch in der entferntesten Ecke des Raumes, bei  der dicken  alten  Souffleuse1,  Frau  Efeu,  bei Willi Böck,   dem   kleinen   Garderobier2,  und  bei  dem  Büh­nenportier,  Herrn  Knurr,  Platz genommen hatte. Von Herrn Knurr wurde behauptet, daß er ein Hakenkreuz unter dem Rockaufschlag versteckt trage und daß seine Privatwohnung voll sei von den Bildern des nationalso­zialistischen «Führers», die er in der Portiersloge denn doch nicht aufzuhängen wagte. Herr Knurr hatte heftige

Diskussionen und Streitigkeiten mit den kommunisti-schen Bühnenarbeitern, die ihrerseits nicht im H. K. ver-kehrten, sondern ihren eigenen Stammtisch in einer Kneipe gegenüber hatten — wo sie zuweilen von Ulrichs besucht wurden. Höfgen wagte sich beinah nie an den Stammtisch der Arbeiter; er fürchtete, die Männer wür­den über sein Monokel lachen. Andererseits pflegte er zu klagen, das H. K. sei ihm durch die Anwesenheit des nationalistischen Herrn Knurr ganz verleidet. «Dieser verfluchte Kleinbürger», sagte Höfgen von ihm, «der auf seinen Führer und Erlöser wartet wie die Jungfer auf den Kerl, der sie schwängern soll! Mir wird immer heiß und kalt, wenn ich an der Portiersloge vorbeigehen muß und an das Hakenkreuz unter seinem Rockaufschlag denke...»

«Natürlich hat er eine ekelhafte Kindheit gehabt», sagte Otto Ulrichs, der noch bei Hans Miklas war. «Er hat mir einmal davon erzählt. Aufgewachsen ist er in irgend so einem finsteren niederbayrischen Nest. Der Vater ist im Weltkrieg gefallen, die Mutter scheint eine auf­geregte, unvernünftige Person zu sein; machte den ver­rücktesten Krach, als der Junge zum Theater gehen woll­te — man kann sich das ja alles vorstellen. Er ist ehr­geizig, fleißig, auch begabt; er hat enorm viel gelernt, mehr als die meisten von uns. Ursprünglich wollte er Musiker werden, er hat den Kontrapunkt* gelernt, und er kann Klavier spielen, und er kann Akrobatik und Steptanzen und Ziehharmonika und überhaupt alles. Er arbeitet den ganzen Tag, dabei ist er wahrscheinlich krank, sein Husten klingt scheußlich. Natürlich findet er, daß er zurückgesetzt wird und nicht genügend Erfolg hat, und schlechte Rollen. Er glaubt, wir sind verschwo­ren gegen ihn, von wegen seiner sogenannten politi­schen Gesinnung.» Ulrichs schaute noch immer, auf­merksam und ernst, zum jungen Miklas hinüber. «95 Mark Monatsgehalt», sagte er plötzlich und blickte dro­hend auf Direktor Schmitz, der sofort unruhig auf sei­nem Stuhl zu rücken begann, «es ist schwer, dabei ein anständiger Mensch zu bleiben.» Nun schaute auch di| Herzfeld aufmerksam zu Miklas hinüber.

Zum Garderobier Böck, zur Souffleuse Efeu und Herrn Knurr pflegte Hans Miklas sich stets dann zu set­zen, wenn er sich recht niederträchtig benachteiligt fand von der Direktion des Künstlertheaters, die er vor seinen politischen Freunden als «verjudet» und «marxistisch» bezeichnete. Vor allem haßte er Höfgen, diesen «ekel­haften Salonkommunisten». Höfgen war, wenn man Miklas glauben durfte, eifersüchtig und eitel; Höfgen war größenwahnsinnig und wollte alles spielen, beson­ders aber spielte er ihm, Miklas, die Rollen weg. «Es ist eine Gemeinheit, daß er mir den Moritz Stiefel nicht gelassen hat», äußerte der Verbitterte. Miklas schaute zornig auf seine eigenen Beine, die mager und sehnig waren.

Garderobier Böck, ein dummer Bursche mit wäßrigen Augen und sehr blonden, sehr harten Haaren, die er kurz geschoren wie eine Bürste trug, kicherte über sei­nem Bierglas: niemand wußte, ob über Hendrik Höfgen,; der als Gymnasiast komisch aussehen würde, oder über den machtlosen Zorn des jungen Hans Miklas. Die Souff­leuse   Efeu  hingegen  zeigte  Entrüstung;  sie  bestätigte Miklas,   daß  es  eine  Gemeinheit  sei.   Das  mütterliche Interesse, das die dicke alte Person an dem jungen Men­schen nahm, brachte für diesen praktische Vorteile mit sich. Übrigens sympathisierte sie auch politisch mit ihm. Sie stopfte ihm seine Socken, lud ihn zum Abendessen ein; schenkte ihm Wurst, Schinken und Eingemachtes. «Damit du dicker wirst, Junge», sagte sie und schaute ihn zärtlich an. Dabei gefiel ihr gerade die Magerkeit seines trainierten,   nicht   sehr   großen,   elastischen,   schmalen Körpers. Wenn sein dichtes dunkelblondes Haar am Hin­terkopf gar zu widerspenstig" in die Höhe stand, sagte die Efeu:  «Du siehst aus wie ein Gassenjunge!» und holte einen Kamm aus dem Beutel.

Wie ein Gassenjunge sah Hans Miklas wirklich aus, freilich wie einer, dem es nicht besonders gut geht und seine Angegriffenheit trotzig bezwingt. Sein Leben anstrengend; er trainierte den ganzen Tag, mutete seinem schmalen Körper vieles zu, wahrscheinlich kamen dacher seine Reizbarkeit und der finster abweisende Ausdruck seines jungen Gesichtes. Dieses Gesicht hatte üble Farben unter den starken Backenknochen gab es schwarze Löcher, so eingefallen waren die Wangen. Um die hellen Augen waren die Ränder auch beinah schwarz. Hingegen war die reine, kindliche Stirne wie beschienen von einer bleichen und empfindlichen Helligkeit; auch der Mund leuchtete, aber auf ungesunde Art, viel zu rot; in den abweisend vorgeschobenen Lippen schien sich alles Blut zu sammeln, von dem das Gesicht sonst leer war. Unter den starken und verführerischen Lippen, von denen die Souffleuse Efeu oft den Blick nicht lassen konnte, ent­täuschte das zu kurze, schwächlich abfallende Kinn.

«Heute früh, auf der Probe, hast du wieder ganz zum Fürchten ausgesehen», sprach die Efeu besorgt. «So schwarze, tiefe Löcher in den Backen! Und der Husten! Dumpf hat der geklungen — zum Erbarmen!»

Miklas konnte es nicht ausstehen, wenn man ihn be­mitleidete; nur die Gaben, in die solches Mitleid sich umsetzte, nahm er gerne, wenngleich wortkarg entge­gen. Das klagende Gerede der Efeu überhörte er einfach. Hingegen wollte er von Böck wissen: «Stimmt es, daß der Höfgen sich heute den ganzen Abend in seiner Gardero­be hinter dem Paravent versteckt hat?»

Bock konnte es nicht in Abrede stellen. Miklas fand Höfgens Betragen derartig albern, daß es ihn geradezu in Heiterkeit versetzte. «Ich sage doch, ein kompletter Narr!» Dabei lachte er triumphierend. «Und das alles we­gen einer Jüdin, der der Kopf bis dahin zwischen den Schultern steckt!» Er machte sich bucklig, um anzudeu­ten, wie die Martin aussehe: die Efeu amüsierte sich herz­lich. «Und so etwas will ein Star sein!» Mit seinem höh­nischen Ausruf konnte er ebensowohl die Martin mei­nen wie Höfgen. Beide gehörten, nach seinem Urteil, in dieselbe bevorzugte,  Undeutsche, tief verwerfliche

Clique'. «Die Martin!» redete er weiter, das böse, lei­dende, reizvolle junge Gesicht in die mageren, nicht ganz sauberen Hände gestützt. «Sie soll ja auch immer diese salonkommunistischen Phrasen dreschen, mit ihren tausend Mark jeden Abend. Eine Bande ist das! Aber es wird aufgeräumt werden mit denen — der Höfgen wird auch noch dran glauben müssen!»

Das enge Lokal war voll Rauch. «Die Luft ist ja dick zum Schneiden», klagte die Motz.  «Das hält doch der stärkste Mann nicht aus.  Und meine Stimme!  Kinder, morgen könnt ihr mich wieder beim Halsarzt sitzen se­hen.» Niemand hatte Lust, sie sitzen zu sehen. Rahel Mohrenwitz machte sogar ironisch: «Huch, unsere Kolo­ratursängerin!» — wofür sie einen fürchterlichen Blick von der Motz bekam, die sowieso etwas gegen Rahel hat-. te: Petersen wußte, warum. Erst gestern wieder hatte man ihn in der Garderobe des dämonischen Mädchens gefun- ] den, und die Motz hatte weinen müssen.  Heute aber schien  sie entschlossen,  sich  keinesfalls die Stimmung verderben zu lassen von einer dummen Gans, die sich vielleicht auf ihr Monokel und ihre lächerliche Frisur noch was einbildete. Vielmehr faltete sie die Hände vor dem Bauch und markierte gemütliche Stimmung. «Aber nett ist es hier», sagte sie herzlich. «Was, Vater Hanse­mann?» Sie blinzelte dem Wirt zu, dem sie noch 27 Mark-] schuldete und der deshalb nicht zurückblinzelte. Gleich danach entsetzte sie sich, weil Petersen sich ein Beefsteak servieren ließ, noch dazu mit Spiegelei. «Als ob ein Paar Würstchen nicht genügt hätten!» Ihr standen Tränen des Zorns in den Augen. Zwischen Motz und Petersen gab es viel Streit und Hader, weil der Väterspieler, nach dem Dafürhalten seiner Freundin, zur Verschwendungssucht neigte.  Immer bestellte er sich teure Sachen, und die Trinkgelder,  die er spendierte, waren auch zu hoch. «Natürlich:  Steak  mit  Ei muß es sein!»  jammerte die. Motz.   Petersen  murmelte,   daß  ein   Mann  sich  doch ständig ernähren müsse. Die Motz aber, ganz außer Fassung, fragte plötzlich mit zornigem Sarkasmus die Mohrenwitz, ob Petersen ihr vielleicht eine Flasche Sekt angeboten habe. «Veuve Cliquot,1 extrafein!» schrie die Motz und sprach, bei aller Gehässigkeit, den Namen der Sektmarke mit jener Delikatesse aus, welche sie als Salon­dame legitimierte. Hierüber war die Mohrenwitz nun ernsthaft beleidigt. «Ich muß doch sehr bitten!» rief sie schrill. «Soll das ein Witz sein?!» Das Monokel fiel ihr aus dem Auge, ihr pausbäckiges, vor Ärger rot gewordenes Gesicht sah plötzlich gar nicht mehr dämonisch aus. Kro-ge blickte schon verwundert auf; Frau von Herzfeld lächelte ironisch. Der schöne Bonetti aber klopfte der Motz auf die Schulter; gleichzeitig auch der Mohrenwitz, die kampfeslustig näher getreten war. «Zankt euch nicht, Kinder!» riet er ihnen, um den Mund besonders müde und angewiderte Falten. «Dabei kommt doch nichts raus. Spielen wir lieber Karten.»

In diesem Augenblick wurden gedämpfte Rufe laut, und alles drehte sich der Türe zu, die sich geöffnet hat­te. Dora Martin stand auf der Schwelle. Hinter ihr dräng­te sich, wie auf der Bühne das Gefolge hinter der Köni­gin, das Ensemble, mit dem sie reiste.

Dora Martin lachte und winkte allen Mitgliedern des Hamburger Künstlertheaters zu; dabei rief sie mit ihrer heiteren Stimme, auf jene berühmte Art, die von tausend jungen Schauspielerinnen im ganzen Lande kopiert wur­de, in jedem Satz einige Worte zerdehnend: «Kinder, wir sind eingeladen, ein ganz langweiliges Bankett, furchtbar schade, aber wir müssen hingehen!» Sie schien ihre eige­ne Sprechweise parodieren zu wollen, so eigenwillig ver­fuhr sie mit der Länge der Silben. Aber allen klang es lieblich in den Ohren, auch denen, welche die Martin nicht leiden konnten, zum Beispiel dem jungen Miklas. Es war nicht zu leugnen: Ihr Auftritt hatte großen Effekt gemacht.Da geschah es, daß jemand hinter ihr sich durchs Gefolge drängte. Es war Hendrik Höfgen, der unvermit­telt hervorkam. Er hatte den Smoking an, den er in mon­dänen1 Rollen auf der Bühne trug und der, aus der Nähe betrachtet, schon recht abgetragen und fleckig wirkte. Über den Schultern lag ihm ein weißes Seidentuch. Sein Atem flog; Wangen und Stirne waren hektisch gerötet. Einen recht beunruhigenden Eindruck machte das ner­vöse Lachen, das ihn schüttelte, während er sich in ge­hetzter Eile, umflattert vom Seidentuch, tief über die Hand der Diva bückte, und das nicht ohne eine gewisse irrsinnige Herzlichkeit schien. «Entschuldigen Sie», brachte er hervor. «Es ist ja phantastisch: ich bin viel zu spät — was müssen Sie von mir denken — eine phanta­stische Sache...» Das Lachen beutelte ihn, sein Gesicht wurde immer röter. «Aber ich wollte Sie doch nicht gehen lassen», dabei richtete er sich endlich auf, «ohne Ihnen gesagt zu haben, wie sehr ich diesen Abend genossen habe — wie wunderschön es gewesen ist!» Plötzlich schien die ungeheuer komische Angelegenheit, über die er fast zersprungen war vor Lachen, nicht mehr zu exi­stieren; er zeigte nun ein ganz ernstes Gesicht.

Dafür war es jetzt an Dora Martin, ein wenig zu la­chen, und das tat sie denn auch, besonders heiser und zauberhaft.

«Schwindler!» rief sie, und von dem eigensinnig ge­dehnten «i» kam sie gar nicht mehr weg. «Sie sind gar nicht im Theater gewesen! Sie haben sich ja versteckt!» Dabei schlug sie ihn leicht mit dem gelben, schweinsle-dernen Handschuh. «Aber das macht nichts», strahlte sie ihn an. «Sie sollen ja so begabt sein.»

Über diese Feststellung, die überraschend kam, er­schrak Höfgen zunächst so stark, daß die helle Röte von seinem Gesicht wich, welches fahl wurde. Dann aber sag­te er, mit einer Stimme, die schmelzend klang: «Ich: Begabt? Das ist doch ein ganz unbewiesenes Gerücht.

Die Vokale konnte auch er zerdehnen, nicht nur Dora Martin brachte dies fertig. Seine Sprachkoketterie hatte eigenen Stil, er war keineswegs darauf angewiesen, irgend jemanden zu kopieren. Dora Martin girrte; er aber sang vor Manieriertheit. Dabei zeigte er jenes Lächeln, das er auf den Proben den Damen vorzumachen pflegte, wenn sie verfängliche Szenen zu spielen hatten: Es entblößte die Zähne und war ziemlich gemein. Er bezeichnete es als das «aasige»1 Lächeln. («Aasiger — verstehst du, mei­ne Liebe? —, aasiger!» mahnte er auf den Proben Rahel Mohrenwitz oder Angelika Siebert, und er machte es vor.)

Ihre Zähne zeigte auch Dora Martin; er während der Mund «baby-talk» sprach und der Kopf kokett zwischen den hochgezogenen Schultern steckte, forschten ihre großen, klugen, unbetrügbaren und traurigen Augen in Höfgens Gesicht. «Sie werden es schon noch beweisen, Ihr Talent!» sagte sie leise, und eine Sekunde lang war nicht nur ihr Blick ernst, sondern auch ihr Gesicht. Ern­sten Gesichtes, beinah drohend, nickte sie ihm zu. Höf­gen, der sich noch vor einer Viertelstunde hinterm Para-vent versteckt hatte, hielt ihren Blick aus. Dann lachte die Martin wieder; girrte: «Wir sind viel zu spät!»; winkte und entschwand mit Gefolge. Höfgen war in die Kantine getreten.

Die Begegnung mit Dora Martin hatte ihn auf wun­derbare Art aufgeheitert; er schien jetzt in einer gera­dezu festlichen Laune zu sein. Von seinem Antlitz kam ein gnädiger Glanz. Alle schauten auf ihn, nun beinah ebenso bezwungen, wie sie vorhin auf die Berliner Diva geschaut hatten. — Ehe Höfgen Direktor Kroge und Frau von Herzfeld begrüßte, war er zu Garderobier Böck getreten. «Hör mal, mein Böckchen», sang er und stand verführerisch da: Hände in die Hosentaschen vergraben, Schultern hochgezogen, und auf den Lippen das aasige Lächeln. «Du mußt mir mindestens sieben Mark fünfzig leihen. Ich will anständig zu Abend essen, und ich habe so ein Gefühl: Väterchen Hansemann verlangt heute Barbezahlung.» Aus den schillernden Edelsteinaugen warf er einen mißtrauisch schiefen Blick auf Hansemann, der mit blauroter Nase unbewegt hinter der Theke saß, Böck war aufgesprungen; aus Schreck über Höfgens einerseits ehrenvolles, andererseits grausiges Ansinnen waren seine Augen noch wäßriger, seine Wangen dunkel­rot geworden. Während er stumm erregt in den Taschen wühlte und Hans Miklas mit gehässig gespanntem Blick den ganzen Vorfall beobachtete, war die kleine Angelika eilig hinzugetreten. «Aber Hendrik!» sagte sie schnell und schüchtern. «Wenn du Geld brauchst — ich kann zum  Ersten leihen!» Sofort bekam Höfgen fischig kalte Augen. Er sagte hochmütig über die Schulter: «Mische dich nicht in unsere Männer­geschäfte, meine Kleine. Bock gibt gerne.» Der Gardero­bier nickte aufgeregt, während sich die Siebert mit nas­sen Augen zurückzog. Höfgen ließ, ohne sich zu bedan­ken, Böcks Silbermünzen nachlässig in seine Tasche glei­ten. Miklas, Knurr und die Efeu schauten finster, Böck fassungslos und Angelika weinend hinter ihm drein, während er wiegenden Ganges, immer noch das weiße Seidentuch über den Schultern, das Lokal durchschritt. «Väterchen Schmitz läßt mich nämlich verhungern», erklärte er, das sieghaft lächelnde Gesicht dem Di­rektorentisch zugewandt.

Dort wurde er mit einigem Hallo empfangen; sogar Kroge zwang sich zu einer etwas lärmenden und nicht ganz echten Herzlichkeit. «Na, alter Sünder, wie geht's? Haben Sie den Abend gut überstanden?» Er bekam scharfe Falten um den Katermund, fast wie die Motz, und falsche Augen hinter den Brillengläsern; plötzlich war ihm anzumerken, daß er nicht nur kulturpolitische Es­says und hymnische Lyrik schrieb, sondern seit über dreißig Jahren mit dem Theater zu tun hatte. — Höfgen und Otto Ulrichs schüttelten sich vertraut, stumm und ausführlich die Hände. Direktor Schmitz sagte etwas belanglos Scherzhaftes, mit seiner überraschend weichen, angenehmen Stimme; Frau von Herzfeld aber lächelte grundlos ironisch, wobei ihre goldbraunen Augen, feucht vor Innigkeit und fast flehend, auf Hendrik gerichtet waren. Er ließ sich von ihr bei der Auswahl seines Abend­essens beraten, was ihr Anlaß gab, an ihn heranzurücken und ihren schweratmenden Busen in seine Nähe zu brin­gen. Sein aasiges Lächeln schien sie nicht abzuschrecken: Sie war es gewohnt, und es gefiel ihr.

Als Väterchen Hansemann die Bestellung entgegen­genommen hatte, fing Höfgen an, von seiner «Frühlings Erwachen»-Inszenierung zu sprechen. «Es wird anständig weiden, glaube ich», sagte er ernst; dabei glitten seine prüfenden Augen durch das Lokal, über die Schauspieler hin, wie die Augen eines Feldherrn über Truppen. «An der Wendla kann die Siebert nichts verderben; Bonetti ist kein idealer Melchior Gabor, aber er schafft es; unsere dämonische Mohrenwitz legt eine erstklassige Ilse hin.» — Es geschah nicht sehr häufig, daß er ohne Mätzchen redete, sondern ernsthaft und um der Sache willen wie eben jetzt. Kroge lauschte ihm achtungsvoll, nicht ohne Überraschung. Es war die Herzfeld, welche die Stim­mung wieder verdarb, indem sie sarkastisch-schmeichle­risch, ihr großes, flaumiggepudertes Gesicht ziemlich nahe bei Höfgen, bemerkte: «Nun, und was den Moritz Stiefel betrifft — da wurde ja gerade von berufenster Sei­te, von Dora selber, festgestellt, daß der junge Schau­spieler, dem wir diese Rolle anvertraut haben, nicht ganz unbegabt ist...» Kroge runzelte mißbilligend die Stirne; Höfgen seinerseits schien die Neckerei zu überhören. «Und wie werden Sie eigentlich als Frau Gabor, meine lerne?» fragte er die Herzfeld ins Gesicht. Dies war offe­ner und derber Hohn. Daß Frau Hedda eine unbegabte Schauspielerin war, gehörte zu den bekannten Tatsachen; auch wußte jeder, daß sie darunter litt. Man spottete gern darüber, daß die kluge Dame es nicht lassen konnte, auf­zutreten, und sei es auch nur in bescheidenen Mütter­rollen. Auf Hendriks Ungezogenheit hin versuchte sie,gleichgültig die Achseln zu zucken; dabei aber zog eine ins Violette spielende Röte über die große Fläche ihres unjungen Gesichts. Kroge sah es, und sein Herz zog sich zusammen in einem Mitleid, das nicht weit von Zärtlich­keit war. Kroge hatte vor vielen Jahren ein Verhältnis mit Frau von Herzfeld gehabt.

Um das Thema zu wechseln oder um auf das einzige Thema zu kommen, das ihn wirklich beschäftigte, be­gann Ulrichs ohne Übergang vom Revolutionären Thea­ter zu sprechen.

Das Revolutionäre Theater war geplant als eine Serie von  Sonntag-Vormittag-Veranstaltungen,   die  unter  der Leitung Hendrik Höfgens und dem  Protektorat einer kommunistischen  Organisation  stehen sollten.   Ulrichs, für den die Bühne zunächst und vor allem ein politisches Instrument bedeutete, hing mit zäher Leidenschaft an diesem Projekt. Das Stück, das man für die Eröffnungs-Vorstellung ausgesucht habe, eigne sich glänzend, sagte er nun, er habe es noch einmal genau durchgearbeitet. «Man interessiert sich in der Partei sehr ernsthaft für unsere Sache», erklärte er und schaute mit einem be­deutungsvollen Verschwörerblick auf Höfgen, an Kroge, Schmitz und der Herzfeld vorbei, aber doch stolz darauf, daß sie es hörten und daß es sie beeindrucken würde. — «Nun, die Partei wird mir keinen Schadenersatz zahlen, wenn die guten Hamburger mir dann mein Haus boykot­tieren», brummte Kroge, den der Gedanke an das Re­volutionäre Theater immer skeptisch und verdrießlich stimmte. «Ja», sagte er noch, «1918 — da konnte man sich solche Experimente leisten. Aber heute...» Höfgen und Ulrichs tauschten einen Blick, der ein hochmüti­ges und   geheimes   Einverständnis   enthielt   und   viel Geringschätzung für die kleinbürgerlichen  Bedenken ihres Direktors. Der Blick dauerte ziemlich lange, Frau von Herzfeld bemerkte ihn und litt. Schließlich wendete sich Höfgen, etwas väterlich herablassend, an Kroge und Schmitz.  «Das Revolutionäre Theater wird uns nicht  schaden — sicher nicht — glauben Sie es nur, Väterchen Schmitz! Was wirklich gut ist, kompromittiert einen nie­mals. Das Revolutionäre Theater wird gut, es wird glän­zend! Eine Leistung, hinter der ein echter Glaube, ein wirklicher Enthusiasmus steht, überzeugt alle — auch die Feinde werden verstummen vor dieser Manifestation unserer glühenden Gesinnung.» Seine Augen schillerten, schielten ein wenig und schienen verzückt in Fernen zu schauen, wo die großen Entscheidungen fallen. Das Kinn hielt er stolz gereckt; auf dem fahlen, nach hinten geneigten, empfindlichen Antlitz lag ein siegesgewisser Glanz. ,Das ist wirkliche Ergriffenheit', dachte Hedda von Herzfeld. ,Das kann er nicht spielen — so begabt er auch ist.' Triumphierend sah sie Kroge an, der eine gewisse Bewegtheit nicht verbergen konnte. Ulrichs mach­te eine feierliche Miene.

Während alle noch gebannt saßen von den Effekten seines rührenden Enthusiasmus, änderte Höfgen plötz­lich Haltung und Ausdruck. Er begann überraschend zu lachen und deutete auf die Photographie eines «Helden­vaters», die über dem Tisch an der Wand hing: die Arme drohend verschränkt, biederer Blick unter finsterer Braue, breiter Vollbart, sorgfältig ausgebreitet auf einem phantastischen Jägerwams.1 Hendrik konnte sich gar nicht darüber beruhigen, wie drollig er den alten Bur­schen fand. Unter vielem Gelächter, nachdem Hedda ihm den Rücken geklopft hatte, weil er am Salat zu er­sticken drohte, brachte er hervor, daß er selber ganz ähn­lich, ja, fast genauso ausgesehen habe — als er nämlich noch die Väterrollen gespielt hatte, an der Norddeut­schen Wanderbühne.

«Als ich noch ein Knabe war», jubelte Hendrik, «da sah ich doch so phantastisch alt aus. Und auf der Bühne ging ich immer gebückt vor lauter Verlegenheit. In den Räubern'2 ließ man mich den alten Moor spielen. Ich war ein hervorragend guter alter Moor. Jeder von meinen Söhnen war zwanzig Jahre älter als ich.»

Da er so laut lachte und von der Norddeutschen Wan­derbühne sprach, eilten von allen Tischen die Kollegen herbei: Man wußte, daß nun Anekdoten kommen würden, und zwar keine abgestandenen alten, sondern neue, und wahrscheinlich ziemlich gute — es geschah selten, daß Hendrik sich wiederholte.

Es wurde ein reizender Abend. Höfgen war blendend in Form. Er bezauberte, er brillierte. Als hätte er ein gro­ßes Publikum vor sich, anstatt nur die paar geringen Kollegen, verschwendete er, großmütig-übermütig, Witz, Charme und Anekdotenschatz. Was war nicht alles an dieser Wanderbühne passiert, wo er die Väterrollen hat­te spielen müssen! Die Motz bekam schon Atemnöte vor Lachen. «Kinder, ich kann nicht mehr!» schrie sie, und da Bonetti ihr drollig-galant mit dem Tüchlein fächelte, übersah sie, daß Petersen sich schon wieder Schnaps bestellte. Als Höfgen aber dazu überging, mit schriller Stimme, flatternden Gesten und unheimlich schielenden Augen die jugendliche Sentimentale der Wanderbühne nachzuahmen, da verzog sogar Vater Hansemann die starre Miene, und Herr Knurr mußte sein Grinsen hinter dem Taschentuch verbergen. Mehr Triumph war nicht herauszuholen aus der Situation. Höfgen brach ab. Auch die Motz wurde ernst, da sie feststellte, wie besof­fen Petersen war. Kroge gab das Zeichen zum Aufbruch. Es war zwei Uhr morgens. Zum Abschied schenkte die Mohrenwitz, die immer originelle Einfälle hatte, Hen­drik ihre lange Zigarettenspitze, ein dekoratives, übri­gens wertloses Stück. «Weil du heute abend so enorm amüsant gewesen bist, Hendrik.» Ihr Monokel blitzte sein Monokel an. Man sah, daß Angelika Siebert, die neben Bonetti stand, vor Eifersucht eine weiße Nase bekam, und dazu Augen, die tränenvoll und gleichzeitig ein wenig tückisch waren.

Frau von Herzfeld hatte Hendrik aufgefordert, noch eine Tasse Kaffee mit ihr zu trinken. Im leeren Lokal machte Vater Hansemann schon die Lampen aus. Für Hedda war das Halbdunkel vorteilhaft: Ihr großes, wei­ches Gesicht mit den sanften, klug beseelten Augen er­schien nun jünger, oder doch alterslos. Dieses war nicht mehr das betrübte Antlitz der alternden, intellektuellen Frau. Die Wangen wirkten nicht mehr flaumig, sondern glatt. Das Lächeln um die orientalisch trägen, halbgeöff­neten Lippen war nicht mehr ironisch, sondern fast ver­führerisch. Still und zärtlich schaute Frau von Herzfeld auf Hendrik Höfgen. Sie dachte nicht daran, daß sie sel­ber reizvoller aussah als sonst; nur daß Hendriks Gesicht mit dem angestrengten Leidenszug an den Schläfen und dem edlen Kinn blaß und deutlich in der Dämmerung stand, merkte sie und genoß sie.

Hendrik hatte seine Ellenbogen auf den Tisch ge­stützt und die Fingerspitzen seiner ausgestreckten Hän­de gegeneinander gelegt. Diese anspruchsvolle Haltung leistete er sich wie einer, der besonders schöne, gotisch spitze Hände hat. Höfgens Hände waren aber keineswegs gotisch; vielmehr schienen sie den Leidenszug der Schlä­fen durch ihre unschöne Derbheit widerlegen zu wollen. Die Handrücken waren sehr breit und rötlich behaart; breit waren auch die ziemlich langen Finger, die in ecki­gen, nicht ganz sauberen Nägeln endeten. Gerade diese Nägel waren es wohl, die den Händen ihren unedlen, beinah unappetitlichen Charakter gaben. Sie schienen aus minderwertiger Substanz zu sein: bröckelig, spröde, ohne Glanz, ohne Form und Wölbung.

Diese Schadhaftigkeiten und Mängel aber verbarg die vorteilhafte Dämmerung. Hingegen ließ sie das träume­rische Schielen der grünlichen Augen rätselhaft und rei­zend wirken.

«Woran denken Sie, Hendrik?» fragte die Herzfeld, nach langem Schweigen, mit einer innig gedämpften Stimme.

Ebenso leise antwortete Höfgen: «Ich denke daran — daß Dora Martin unrecht hat...» Hedda ließ ihn, über sei­ne aneinandergelegten Hände hinweg, ins Dunkel reden,ohne zu fragen oder zu widersprechen. «Ich werde mich nicht beweisen», klagte er in die Dämmerung. «Ich habe nichts zu beweisen. Niemals werde ich erstklassig sein. Ich bin provinziell.» Er verstummte, preßte die Lippen aufeinander, als erschräke er selber vor den Erkenntnis­sen und Bekenntnissen, zu denen die sonderbare Stunde ihn brachte.

«Und weiter?» fragte Frau von Herzfeld mit sanftem Vorwurf. «Und weiter denken Sie nichts? Immer nur dar­an?» Da er stumm blieb, dachte sie: Ja — dieses ist wohl das einzige, was ihn wirklich beschäftigt. Das mit dem poli­tischen Theater vorhin und sein Enthusiasmus für die Revolution — das war also auch nur Komödie.' Diese Ent­deckung erfüllte sie mit Enttäuschung; irgendwo fühlte sie sich aber auch auf eine merkwürdige Art von ihr befriedigt.

Er ließ mysteriös die Augen schillern; eine Antwort hatte er nicht.

«Merken Sie denn nicht, wie Sie die kleine Angelika quälen?» fragte die Frau neben ihm. «Spüren Sie denn nicht, daß Sie — andere leiden machen? Irgendwo müs­sen Sie doch für all das bezahlen.» Sie ließ den klagen­den und suchenden Blick nicht von ihm. «Irgendwo müs­sen Sie doch büßen — und lieben.»

Nun war es ihr doch peinlich, daß sie dies gesagt hat-te. Es war entschieden zuviel, sie hatte sich gehen lassen. Schnell entfernte sie ihr Gesicht von seinem. Zu ihrem Erstaunen bestrafte er sie durch kein böses Grinsen, durch kein höhnisches Wort. Vielmehr blieb sein Blick schielend, schillernd und starr, ins Dunkel gerichtet, als suchte er dort Antwort auf dringliche Fragen, Stillung seiner Zweifel und das Bild einer Zukunft, deren eigent­licher Sinn es war, ihn groß zu machen.

II   Die Tanzstunde

Für den nächsten lag hatte Hendrik den Beginn de Probe auf halb zehn Uhr angesetzt. Pünktlich versammelte sich das Ensemble, soweit es in «Frühlings Erwa­chen» beschäftigt war, teils auf der zugigen Bühne, teils im spärlich beleuchteten Parkett. Nachdem man etwa eine Viertelstunde lang gewartet hatte, entschloß sich Frau von Herzfeld dazu, Höfgen aus dem Büro zu holen, wo er sich seit neun Uhr mit den Direktoren Schmitz und Kroge besprach.
        Gleich bei seinem Eintritt waren sich alle darüber klar, daß er sich heute in der ungnädigsten Stimmung befand — der strahlende Causeur1 vom vorigen Abend war nicht wie­derzuerkennen. Die Schultern auf nervöse Art hochgezo-gen, die Hände in den Hosentaschen vergraben, ging er eilig durch das Parkett und bat, mit einer vor Gereiztheit fast tonlosen Stimme, um ein Exemplar des Textbuches. «Ich habe meines zu Hause liegenlassen.» Er hatte einen bitter gekränkten Ton, der gleichsam allen Anwesenden einen leisen, aber intensiven Vorwurf aus dem Umstand machte, daß er, Hendrik, beim Weggehen vergeßlich und zerstreut gewesen war. «Nun, darf ich bitten?» Es gelang ihm, zugleich wegwerfend gedämpft und sehr schneidend zu sprechen. «Hat denn niemand so ein Heftchen für mich?»

Die kleine Angelika reichte ihm das ihre. «Ich brauche mein Buch nicht mehr», sagte sie errötend. «Ich kann meinen Text.»

Hendrik, anstatt sich zu bedanken, bemerkte kurz: «Das will ich auch hoffen!» — und wandte sich von ihr ab.

Über dem roten Seidenschal, den er statt eines Hem­des trug — oder der doch das Hemd, falls er ein solches anhatte, versteckte —, wirkte sein Gesicht besonders fahl. Das eine Auge schaute, unter halb gesenktem Lid, ver­ächtlich und böse; vor dem anderen blitzte das Monokel. Als er mit einer plötzlich ganz hellen, durchdringenden und etwas klirrenden Kommandostimme rief: «Anfan­gen, Herrschaften!» — zuckte alles zusammen.

Er rannte im Zuschauerraum umher, während auf der Bühne gearbeitet würde. Den Moritz Stiefel — die Rolle

1 he er sich selber vorbehalten hatte — ließ er von ÌÛ klas,  dem  seine eigene Partie nur sehr wenig zu tun oab, markieren. Darin konnte man eine besondere Bos-; ■    iieit sehen, da der arme Miklas doch seinerseits den Moritz, für sein Leben gerne gespielt hätte. Übrigens schien Höfgen, mit provokantem Hochmut, den Kolle­gen andeuten zu wollen, daß er seinerseits es keineswegs nötig habe, irgend etwas zu probieren oder vorzuberei­ten: er war der Regisseur, stand über dem Ganzen; seine Routine' war so groß wie sein Genie, die eigene Rolle erledigte er nebenbei; erst auf der Generalprobe würde man es von ihm zu sehen und zu hören bekommen, wie Moritz Stiefel,  der düstere Gymnasiast,  der verzweifelt liebende, der Selbstmörder aufzufassen und zu spielen sei. Hingegen bekam man es jetzt schon von ihm gezeigt, was man aus dem Mädchen Wendla, dem Knaben Mel­chior,  der mütterlichen Frau Ciabor machen konnte. Hendrik sprang,  mit einer überraschenden Behendig­keit, auf die Bühne, und wirklich: er verwandelte sich in das zarte Mädchen, das in den morgendlichen Garten tritt und die ganze Welt umarmen möchte, da sie an den Geliebten  denkt;  in  den  lebenshungrigen und stolzen Knaben; in die kluge, sorgenvolle Mutter. Seine Stimme . konnte zärtlich, übermütig oder gedankenvoll klingen. Es gelang ihm, in diesem Augenblick kindlich jung aus­zusehen, im nächsten aber uralt. Er war ein glänzender Schauspieler.

Wenn er es dem schönen Bonetti, der die Brauen halb verärgert, halb achtungsvoll hochzog, oder der demüti­gen Angelika, die gegen Tränen kämpfte, eindrucksvoll demonstriert hatte, was man mit ihren Rollen eigentlich anfangen könnte, wenn man nur das Zeug dazu hätte, schnitt er eine müde und verächtliche Grimasse, klemm­te sich das Monokel vors Auge und stieg ins Parkett zurück. Von dort aus erklärte, arrangierte und kritisierte er weiter.  Keiner blieb verschont von seinen höhnisch

die Routine [ru'tims] frz îïûò, ñíîðîâêà

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herabsetzenden Worten, sogar Frau von Herzfeld wurde abgekanzelt — was sie mit einem verzerrt-ironischen Lächeln hinnahm —; die kleine Angelika hatte sich schon mehrmals tränenüberströmt in die Kulisse zurück­gezogen; auf Bonettis Stirne zeigten sich Zornesadern; am tiefsten und leidenschaftlichsten aber ärgerte sich Hans Miklas, dessen Gesicht vor Zorn zu verfallen und schwarze Löcher zu bekommen schien.

Da alle litten, wurde Hendrik zusehends besserer Lau­ne. Während der Mittagspause, in der Kantine, un­terhielt er sich recht angeregt mit Frau von Herzfeld. Um halb drei Uhr ließ er die Gesellschaft wieder zur Arbeit antreten. Es war gegen halb vier Uhr, als der schöne Bonetti seinen angewiderten Zug um den Mund bekam, die Hände in die Hosentaschen steckte und gnauzend wie ein verwöhntes Kind sagte: «Ist denn noch nicht bald Schluß mit der Schinderei?» Daraufhin warf Höfgen ihm einen vernichtenden Blick zu aus seinen weichen und eiskalten Augen. Er sagte: «Wann aufgehört wird, das bestimme allein ich!» und hielt das schöne Kinn be­sonders hoch gereckt. Dem eingeschüchterten Ensemble zeigte er das Antlitz eines edlen und nervösen Tyrannen, «Weitermachen, Herrschaften!» rief er, wobei seine Stim­me den hellen Metallton hatte, dem fast niemand wider­stehen konnte. «Wo haben wir unterbrochen?»

Man probierte folgsam die nächste Szene, war aber kaum mit ihr zu Ende gekommen, als Hendrik seiner­seits einen Blick auf die Armbanduhr warf. Sie zeigte ein Viertel vor vier Uhr: Während er es feststellte, erschrak er, und zwar so heftig, daß es weh im Magen tat. Ihm war eingefallen, daß er um vier Uhr eine Verabredung mit Juliette in seiner Wohnung hatte. Sein Lächeln war etwas krampfhaft, als er dem Ensemble mit hastigfreundlichen Worten mitteilte, nun müsse Schluß gemacht werden. Dem jungen Miklas, der sich ihm mürrischen Gesichtes nahte, um irgendeine Frage zu stellen, winkte er eilig ab. Er rannte durch das dunkle Parkett dem Ausgang zu; leg­te das steile Stück Weges, das zwischen dem Theaterpor-

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tal -und der Kantine lag, laufend zurück; langte atemlos im H. K. an; riß dort seinen braunen Ledermantel und . den weichen grauen Hut vom Nagel und war schon davon.

Die altmodische Villa,  in deren  Erdgeschoß er ein Zimmer bewohnte, lag in einer jener stillen Straßen, die vor dreißig Jahren zu den vornehmsten der Stadt'gehört hatten. Mit der Inflation waren die meisten Bewohner der feinen Gegend arm geworden; ihre Villen mit den vielen Zinnen und Giebeln sahen schon recht herunter­gekommen aus — verwahrlost, wie die großen Gärten, die  sie umgaben.  Auch  Frau  Konsul  Mönkeberg",  der Hendrik monatlich vierzig Mark für eine geräumige Stu­be bezahlte, fand sich in bedrängten Verhältnissen. Trotz­dem war sie eine tadellose, stolze alte Dame geblieben, die ihre sonderbaren Kostüme mit Puffärmeln1 und Spit­zenumhang würdevoll trug, auf deren glattem Scheitel niemals ein Haar sich widerspenstig zu zeigen wagte und um deren schmale Lippen ironische, aber nicht bittere Fältchen spielten.

Hendrik fühlte sich unsicher in der Gegenwart der Dame Mönkeberg; ihre vornehme Herkunft und Vergan­genheit schüchterten ihn ein. So war es ihm auch jetzt durchaus nicht angenehm, der feinen Alten im Vestibül zu begegnen, nachdem er gerade die Haustür so kra­chend hinter sich ins Schloß geworfen hatte. Angesichts ihrer imposanten Haltung nahm auch er sich ein wenig zusammen; zupfte sich den roten Seidenschal zurecht und  klemmte sich  das  Monokel vors Auge.  «Guten Abend, gnädige Frau, wie geht es Ihnen?» sprach er mit der singenden Stimme, die sich am Ende der Höflich­keitsfloskel nicht hob, wodurch der formelhaft konven­tionelle und anmutig leere Charakter des Satzes betont ward. Die artige kleine Anrede begleitete er mit einer leichten Verneigung, die, bei aller eleganten Nachlässig­keit, doch beinah höfischen Stil hatte.

mit Puffärmeln — ñ ðóêàâàìè ôîíàðèêîì, ñ áóôàìè

Die Witwe Mönkeberg lächelte nicht; nur die Fältchen einer erfahrenen Ironie spielten ihr ein wenig stärker um Augen und schmale Lippen, als sie erwiderte: «Beeilen Sie sich; lieber Herr Höfgen! Ihre — Lehrerin envaitet Sie schon seit einer Viertelstunde.» Die boshafte kleine Pause, welche Frau Mönkeberg vor dem Wort «Lehrerin» machte, bewirkte, daß Hendrik sein Gesicht heiß werden fühlte.

,Sicher bin ich ganz rot geworden', dachte er, ärger­lich und beschämt. ,Aber sie kann es wohl hier im Halb­dunkel nicht bemerken', versuchte er, sich selbst zu beruhigen, während er sich mit der vollendeten Anmut eines spanischen Granden zurückzog.

«Ich danke Ihnen, gnädige Frau.» Er hatte die Türe zu seinem Zimmer geöffnet.

Im Räume herrschte ein rosiges Halbdunkel; es brann­te nur die mit buntem Seidentuch verhüllte Lampe auf dem niedrigen, runden Tisch neben dem Schlafsofa. In die farbige Dämmerung hinein rief Hendrik Höfgen mit einer ganz kleinen, demütigen, etwas zitternden Stimme: «Prinzessin Tebab, wo bist du?»

Aus einer dunklen Ecke antwortete ihm ein tiefes, grollendes Organ: «Hier, du Schwein — wo denn sonst?»

«Oh — danke —-», sagte, immer noch sehr leise, Hen­drik, der mit gesenktem Haupt bei der Türe stehenge­blieben war. «Ja ... jetzt kann ich dich sehen ... Ich bin froh, daß ich dich sehen kann...»

«Wieviel Uhr ist es?» schrie die Frau aus der Ecke.

Hendrik versetzte bebend: «Ungefähr vier Uhr — denke ich.»

«Ungefähr vier Uhr! Ungefähr vier Uhr!» höhnte die böse Person, die immer noch im Schatten unsichtbar blieb. «Ist ja drollig! Ist ja ausgezeichnet!» Sie sprach mit einem stark norddeutschen Akzent. Ihre Stimme war aus­geschrien wie die eines Matrosen, der sehr viel säuft, raucht und schimpft. «Es ist ein Viertel nach vier Uhr», stellte sie fest, plötzlich unheimlich leise.

Mit derselben schauerlichen Gedämpftheit, die nichts Gutes verhieß, forderte sie ihn auf: «Willst du nicht eben


mal ein bißchen näher an mich ran kommen, Heinz — nur ein ganz klein bißchen! Aber erst mach das Licht an!» Unter der Anrede «Heinz» zuckte Hendrik zusammen wie unter dem ersten Schlag.  Er gestattete es keinem Menschen, auch seiner Mutter nicht, ihn so zu nennen: Nur Juliette durfte es wagen. Außer ihr wußte es wohl niemand hier in der Stadt, daß sein eigentlicher Vor­name Heinz war — ach, in welcher süßen und schwachen Stunde hatte er es ihr anvertraut? Heinz: das war der Name, mit dem alle ihn angeredet hatten, bis zu seinem achtzehnten Jahr. Erst als er sich darüber klargeworden war,  daß er Schauspieler und berühmt werden wollte, hatte er sich den gewählteren «Hendrik» zugelegt. Wie schwer war es. bei der Familie durchzusetzen gewesen, daß man sich an ihn gewöhnte und ihn ernst nahm — diesen  ausgefallenen,  anspruchsvollen  «Hendrik»!  Wie viele Briefe, die mit «Mein lieber Heinz!» begannen, hat­te man unbeantwortet gelassen — bis auch die Mutter Bella und die Schwester Josy sich endlich zu der neuen Anrede bequemten. Mit Jugendfreunden, die hartnäckig bei «Heinz» blieben, hatte man den Verkehr rigoros ab­gebrochen; übrigens legte man ohnedies keinen Wert auf den Umgang mit Kameraden, die peinliche Anekdoten aus einer schalen Vergangenheit mit dem wiehernden Gelächter eines taktlosen Humors hervorzuholen liebten. Heinz war gestorben; Hendrik sollte groß werden. — Der junge  Schauspieler  Höfgen  kämpfte  einen  erbitterten Kampf mit den Agenturen, den Theaterdirektoren und Feuilletonredaktionen darum, daß man seinen frei erfun­denen, preziösen Vornamen richtig schriebe. Er zitterte vor Zorn und Gekränktheit, wenn er sich auf einem Pro­gramm oder in einer Rezension als «Henrik» aufgeführt fand. Das kleine «d» in der Mitte seines selbstgewählten Namens war für ihn ein Buchstabe von ganz besonderer, magischer Bedeutung: Wenn er es erst erreicht haben würde,  daß  ausnahmslos alle Welt ihn  als  «Hendrik» anerkannte — dann war er am  Ziel,  ein  gemachter Mann.

Eine so dominierende Rolle spielte der Name — der mehr als eine Personalbezeichnung", nämlich eine Auf-oabe und Verpflichtung war — in Hendrik Höfgens ehr­geizigen Gedanken. Trotzdem duldete er es nun, daß juliette aus ihrer finsteren Ecke ihn drohend anredete mit dem abgelegten und verhaßten «Heinz».

Er gehorchte ihren beiden Befehlen; bewegte den Lichtschalter, so daß plötzlich eine grelle Helligkeit ihm die Augen blendete, und machte dann, die Stirn noch immer gesenkt, ein paar Schritte auf Juliette zu. Einen Meter entfernt von ihr blieb er stehen; auch dieses aber war ihm nicht gestattet. Sie murmelte mit einer heiseren und höchst beunruhigenden Freundlichkeit —wobei ihre Zähne zusammengebissen blieben: «Komm doch näher.

mein Junge!»

Da er sich nicht von der Stelle bewegte, lockte sie ihn, wie einen Hund, den man mit Schmeicheltönen an sich heranholt, um dann um so grausamer zu strafen: «Nur näher, mein Schöner! Ganz nahe! Nur keine Angst!» Er blieb immer, noch bewegungslos, immer noch mit dem geneigten Gesicht; Schultern und Arme hingen ihm schlaff nach vorne, um Schläfen und Augenbrauen trat ein leidender, gespannter Zug hervor; die geblähten Nü­stern schnupperten ein penetrant süßes und gemeines Parfüm, das sich mit einem anderen, noch wilderen, aber durchaus nicht süßen Geruch — der Ausdünstung eines Körpers — auf erregende und peinigende Art ver­mischte.

Da das Mädchen durch seine wehleidige und edle Po­situr auf die Dauer gelangweilt und irritiert wurde, ließ sie plötzlich eine Zornesstimme hören, die wie heiseres Brüllen aus dem Urwald klang: «Steh doch nicht da, als ob du dir in die Hosen gemacht hättest! Kopf hoch. Mensch!» Majestätischer fügte sie hinzu: «Blicke mir ins Gesicht!»

Er hob langsam den Kopf, während sich der Leidens­zug um seine Schläfen vertiefte. Im fahlen Antlitz waren eine grünblauen Augen erweitert — vor Wonne oder vor Angst. Sprachlos starrte er auf Prinzessin Tebab, seine Schwarze Venus.*

Negerin war sie nur von der Mutter her — ihr Vater war ein Hamburger Ingenieur gewesen —; aber die dunk­le Rasse hatte sich als stärker erwiesen als die helle; sie sah nicht nach «Halbblut» aus, sondern beinah nach Voll-... blut. Die Farbe ihrer rauhen, stellenweis etwas rissigen 1 Haut war dunkelbraun, an manchen Partien — zum Bei­spiel auf der niedrigen, gewölbten Stirne und auf den ë schmalen, sehnigen Handrücken — fast schwarz. Heller ;; gefärbt hatte die  Natur nur das Innere ihrer Hände; ! während sie selbst, mittels Auflegen von Schminke, die Farbe ihrer oberen Wangenhälften eigenwillig verändert , hatte: über den starken, brutal geformten Backenkno­chen lag das künstliche Hellrot wie ein hektischer Schim­mer. Auch die Augenpartie war kosmetisch bearbeitet: die Brauen abrasiert und durch schmale  Kohlestriche ersetzt; die Wimpern künstlich verlängert; die Schatten auf dem oberen Lid, und bis hinauf zu den schmalen Brauen, ins Rötlichblaue vertieft. Hingegen hatte sie den wulstigen Lippen die natürliche Farbe gelassen. Über den blendenden Zahnreihen, die sie beim Lachen wie beim Schimpfen entblößte, erschienen sie rauh, wie das Fleisch der Flände und des Halses, und von einem dunk­len Violett, gegen dessen trüben Ton das gesunde Rot des Zahnfleisches und der Zunge heftig kontrastierte. In ihrem Gesicht, das von den beweglichen, grausamen und gescheiten Augen und von den blitzenden Zähnen be­herrscht war, bemerkte man zunächst gar nicht die Nase; wie flach und eingedrückt sie war, erkannte man erst bei genauerem Hinschauen. Diese Nase schien in der Tat so gut wie nicht vorhanden; sie wirkte nicht wie eine Erhöhung inmitten der wüsten und auf eine schlimme Art attraktiven Maske; eher wie eine Vertiefung.

Für Juliettens höchst barbarisches Haupt hätte man sich als Hintergrund eine Urwaldlandschaft gewünscht statt dieser bürgerlichen Stube mit ihren Plüschmöbeln, Nippesfiguren und seidenen Lampenschirmen. Übrigens

enttäuschte nicht nur die Dekoration, von der dieses Haupt sich abhob, sondern auch die Krönung des Haup­tes selber: das Haar. Es war keineswegs die krause, schwarze Mähne, die man zu dieser Stirne, diesen Lip­pen passend gefunden hätte; vielmehr überraschte es durch Glattheit und eine mattblonde Färbung. Die Frisur war einfach; der Scheitel in der Mitte gezogen. Die dunk­le Dame gefiel sich in der Behauptung, so seien ihre Haare immer gewesen, niemals habe sie etwas an ihnen verändert: ihre Farbe und Beschaffenheit habe sie vom Vater, dem Ingenieur Martens aus Hamburg, geerbt.

Daß ein Mann dieses Namens und dieses Berufes ihr Vater gewesen war, schien festzustehen oder wurde doch von niemandem bestritten. Übrigens war Martens seit Jahren tot. Der arbeitsreiche Aufenthalt im Inneren Af­rikas war ihm nicht bekommen. Geschwächt vom Mala­riafieber, das Herz ruiniert von Ghininspritzen und von alkoholischen Exzessen, war er nach Hamburg zurück­gekehrt, um dort, eilig und ohne viel Aufsehen zu erre­gen, zu sterben. Das Negermädchen, das seine Gelieb­te gewesen war, ließ er am Kongo; ebenso das dun­kelhäutige kleine Geschöpf, dessen Vater er sein mochte. Die Nachricht vom Tode des Ingenieurs drang nicht bis nach Afrika. Nach geraumer Zeit verlor Juliette auch noch die Mutter; nun machte sie sich auf in das sehr fer­ne, sicherlich sehr wundervolle Deutschland. Sie hoffte, dort von der väterlichen Liebe lanciert zu werden. Indes­sen konnte man ihr nicht einmal das Grab des Inge­nieurs zeigen; die Gebeine ihres armen Vaters waren verlorengegangen wie sein Andenken.

Ein Glück für die junge Juliette, daß sie leidlich Step­tanzen konnte: sie hatte es noch bei den Ihren gelernt. So gelang es ihr, bald eine Anstellung in einem der be­sten Etablissements von St. Pauli zu finden. Dort hätte sie sich sicherlich halten können, und vielleicht wäre der gescheiten und energischen Person ein ehrenvoller Auf­stieg beschieden gewesen — hätten nur ihr heftiges Tem­perament und eine unbeherrschbare Neigung für starke


 

Getränke ihr nicht den allerfatalsten Strich durch die Rechnung gemacht. Sie liebte es und konnte es gar nicht lassen, mit der Reitpeitsche auf diejenigen ihrer Bekann­ten und Kollegen loszugehen, mit denen sie gerade nicht in allen Stücken der gleichen Meinung oder Stimmung war: eine Angewohnheit, über die man in St.-Pauli-Krei­sen* sich zunächst wie über eine humoristische und nied­liche Nuance ergötzte, die aber auf die Dauer gar zu ori­ginell und übrigens einfach störend wurde.

Juliette bekam ihre Entlassung und erlebte nun, in unbesorgt geschwindem Tempo, das, was man gemeinhin «von Stufe zu Stufe sinken» nennt; das heißt: sie mußte ihre Tanzkünste in immer kleineren, immer übler beleu-mundeten Lokalen zeigen. Ihre Einnahmen aus solcher Tätigkeit wurden nach und nach so gering, daß sie sich bald gezwungen sah, ihnen durch Nebenverdienste auf­zuhelfen. Welche Beschäftigung kam in Frage, wennj nicht die des abendlichen Spaziergangs auf der Reeper-1 bahn* und in den benachbarten Gassen? Ihr schöner, .] dunkler Körper, den sie in aufrechtem, stolzem, ja fast hochmütigem Gang über das Trottoir bewegte, war wahr­haftig nicht das schlechteste Stück von diesem ungeheu­ren Ausverkauf der Leiber, der sich hier allnächtlich den durchreisenden Matrosen und den armen wie den ehren­werten Männern der Stadt Hamburg bot.

Der Schauspieler Höfgen übrigens hatte die Bekannt­schaft seiner Schwarzen Venus keineswegs auf dem Strich j gemacht; vielmehr in der engen, vom Tabaksqualm und vom Lärm besoffener Schiffer erfüllten Kneipe, wo sie, für eine Abendgage von drei Mark, ihre dunklen, glatten Glieder und ihre kunstvoll klappernden Steps zur Schau stellte. Auf dem Programm des finsteren Kabaretts war die schwarze Tänzerin Juliette Martens als «Prinzessin Tebab» angezeigt — ein Name, den sie nur als Künstle­rin führen durfte, auf den sie aber auch im zivilen Leben Anspruch zu haben behauptete. Durfte man ihren Anga­ben Glauben schenken, so war ihre verstorbene Mutter, die verlassene Geliebte des Hamburger Ingenieurs, von

iein fürstlichem Blute gewesen: Tochter eines veritablen, unermeßlich reichen, großmütigen und leider in relativ zartem Alter von seinen Feinden verspeisten Negerkönigs.

Was Hendrik Höfgen betrifft, so war er wenige)- von ihrem Titel beeindruckt gewesen — obwohl auch dieser ihm ganz außerordentlich gefallen hatte — als vielmehr von ihren beweglichen grausamen Augen und von den Muskeln ihrer schokoladenfarbenen Beine. Nachdem die Nummer der Prinzessin Tebab beendet gewesen war, hat­te er sich in der Garderobe der Künstlerin melden las­sen, um ihr seinen — zunächst vielleicht etwas überra­schend klingenden —Wunsch vorzutragen: nämlich den, lim/stunden bei ihr zu nehmen. «Heute muß ein Schau­spieler trainiert sein wie ein Akrobat», hatte Höfgen erklärend hinzugefügt; aber die Prinzessin schien nicht sehr begierig auf seine Erläuterungen. Ohne sich lang zu verwundern, hatte sie den Preis pro Stunde und das erste Rendezvous' verabredet.

So war die Beziehung zwischen Hendrik Höfgen und Juliette Martens entstanden. Das dunkle Mädchen war die «Lehrerin» — also die Herrin; vor ihr stand der blei­che Mann als der «Schüler» — als der Gehorchende, Sich-Erniedrigende, der die häufige Strafe mit der glei­chen Demut empfängt wie das seltene, karge Lob.

«Blicke mich an!» verlangte Prinzessin Tebab und roll­te schrecklich die Augen, während die seinen, zugleich begehrend und furchtsam, an ihrer gebieterischen Miene hingen.

«Wie schön du heute bist!» brachte er schließlich her­vor, wobei ihm die Lippen nur mühsam zu gehorchen schienen.

Sie fuhr ihn an: «Laß den Unsinn! Ich bin nicht schö­ner als sonst.» Dabei strich sie sich aber doch eitel über den Busen und zupfte ihr enges, plissiertes Röckchen zurecht, das kurz oberhalb der Knie endete. Vom schwar­zen Seidenstrumpf war nur ein knappes Stück sichtbar;

das Rendezvous [räde'vu:] frz. ñâèäàíèå, âñòðå÷à

 

denn die grünen Schaftstiefel aus geschmeidigem Lackle­der reichten bis über die Waden. Zu den prächtigen Stie-J fein und dem kurzen Rock trug die Prinzessin ein graues Pelzjäckchen, dessen Kragen im Nacken hochgeschlagen war. An den dunklen, sehnigen Handgelenken klirrten brei-te Armbänder aus gemeinem Goldblech. Das eleganteste Stück ihrer Ausstattung war die Reitpeitsche — ein Ge­schenk Hendriks. Sie war leuchtend rot, aus geflochtenem Leder. Juliette klopfte mit ihr, in einem kurzen, harten und drohenden Rhythmus, gegen die grünen Schaftstiefel.

«Du bist wieder eine Viertelstunde zu spät», sagte sie,) nach einer langen Pause, die niedrige und zu zwei klei­nen Buckeln gewölbte Stirne in böse Falten gelegt. «Wie oft soll ich dich noch warnen, mein Süßer?» fragte sie tückisch-leise, um dann in unvermitteltem Zorne loszu­brechen: «Es ist genug!! Ich habe es satt!! Gib mir deine Pfoten!»   ■

Hendrik hob langsam die beiden Hände, deren Innen­flächen er nach oben wandte. Dabei ließ er seine hypno­tisierten, aufgerissenen Augen nicht von der ergrimm­ten, schauerlichen Fratze der Geliebten.

Sie zählte mit einer grellen, plärrenden Stimme: «Eins, zwei, drei!», während sie zuhieb. Das Geflecht der eleganten Peitsche pfiff grausam quer über seine Handflächen, auf denen sofort dicke rote Striemen ent­standen. Der Schmerz, den er empfand, war so heftig, daß er ihm das Wasser in die Augen trieb. Er verzog den Mund; beim ersten Schlag schrie er leise; dann beherrschte er sich und stand mit einem starren, weißen Gesicht.

«Für den Anfang hast du genug», sagte sie und zeigte plötzlich ein müdes Lächeln, welches durchaus gegen die Spielregeln ging: es hatte nichts fratzenhaft Grausames, sondern enthielt gutmütigen Spott und ein wenig Mit­leid. Sie ließ die Peitsche sinken, wandte den Kopf und stand — das Gesicht im Profil — in einer schönen, trau

«Zieh dich um!»

sagte sie leise. «Wir wol- rigen Haltung, len arbeiten.»

Es gab keinen Paravent, hinter dem er hätte ver­schwinden können, als er die Kleidung wechselte. Unter halbgesenkten Lidern, mit einem übrigens völlig unin­teressierten Blick, beobachtete Juliette jede seiner Bewe­gungen. Er mußte alles ablegen und ihr seinen hellen, schon etwas zu fetten, rötlich behaarten Körper zeigen, ehe er in den ärmellosen, blau und weiß gestreiften Sweater und in das schwarze Turnhöschen schlüpfte. Schließlich stand er vor ihr in der unwürdigen Tracht, die er seinen «Trainingsanzug» nannte — in der kin­dischen und ridikülen Aufmachung, bestehend aus schwarzen, ausgeschnittenen Halbschuhen mit weißen Söckchen, die oberhalb der Knöchel kokett umgerollt waren; aus dem kurzen Höschen von glänzend schwar­zem Satin — wie die kleinen Buben es in der Turnstun­de tragen — und dem gestreiften Hemd, das Hals und Arme entblößt ließ.

Sie musterte ihn, kritisch und kalt. «Du bist seit vori­ger Woche noch etwas dicker geworden, mein Süßer», konstatierte sie, wobei sie mit der Peitsche höhnisch gegen ihre grünen Stiefel klopfte.

«Entschuldige», bat er leise.

Die Schwarze machte sich am Grammophon zu schaf­fen. In die Jazzmusik hinein, deren rhythmischer Lärm plötzlich einsetzte, sagte sie rauh: «Fang schon an!» Da­bei fletschte sie die beiden Reihen ihrer gar zu weißen Zähne und bewegte grimmig die Augen: Dies genau war das Mienenspiel, das er jetzt von ihr erwartete und ver­langte.

Ihr Gesicht stand vor ihm wie die schreckliche Maske eines fremden Gottes: Dieser thront mitten im Urwald, an verborgener Stelle, und was er fordert mit seinem Zähneblecken und Augenrollen, das sind Menschenopfer. Man bringt sie ihm, zu seinen Füßen spritzt Blut, er schnuppert mit der eingedrückten Nase den süß vertrau­ten Geruch, und er wiegt ein wenig den majestätischen Oberkörper nach dem Rhythmus des wild bewegten la.mt.ams; Um ihn vollführen seine Untertanen den ver-zückten Freudentanz. Sie schleudern die Arme und Bei­ne, sie hüpfen, schaukeln sich, taumeln; aus ihrem Ge­brüll wird Wonnegestöhn, aus dem Gestöhn wird ein Keuchen, und schon sinken sie hin, lassen sich fallen vor die Füße des schwarzen Gottes, den sie lieben, den sie ganz bewundern — wie Menschen nur den lieben und ganz bewundern können, dem sie das Kostbarste geop­fert haben: Blut.

Hendrik hatte langsam zu tanzen begonnen. Aber wo­hin war die triumphale Leichtigkeit, die von Publikum und Kollegen an ihm bewundert wurde? Sie war ver­schwunden; nur unter Qualen schien er jetzt die Füße zu setzen — freilich unter Qualen, die auch Wonnen wa­ren: dies verrieten das selbstvergessene Lächeln der fah­len, aufeinandergepreßten Lippen und der benommene Blick.

Juliette ihrerseits dachte nicht daran, zu tanzen; sie ließ den Schüler sich alleine plagen. Nur durch Hände­klatschen, rauhe Schreie und rhythmisches Schaukeln des Leibes feuerte sie ihn an. «Schneller, schneller!» for­derte sie wütend. «Was hast du denn in den Knochen? Und du willst ein Mann sein?! Du willst ein Schauspieler sein und dich auch noch für Geld sehen lassen? — Da, du komisches Stückchen Elend...»

Die Peitsche fuhr ihm über die Waden und über die Arme. Diesmal traten ihm keine Tränen in die Augen, welche trocken und glühend blieben. Nur seine zusam­mengepreßten Lippen zitterten. Prinzessin Tebab schlug noch einmal zu.

Er arbeitete, ohne jede Unterbrechung, eine halbe Stunde lang, als handelte es sich um ein ernsthaftes Trai­ning anstatt um eine etwas schauerliche Lustbarkeit. Schließlich keuchte er heftig. Er taumelte. Sein Gesicht war schweißbedeckt. Mühsam brachte er hervor: «Mir ist schwindlig. Darf ich aufhören...?»

Sie erwiderte, mit einem Blick auf die Uhr, kurz unc sachlich: «Mindestens noch eine Viertelstunde mußt du springen.»

Da die Musik wieder plärrte und Juliette wieder fre­netisch' in die Hände klatschte, versuchte er noch ein­mal den komplizierten Step. Aber die gequälten Füße, in ihren koketten Halbschuhen und Söckchen, verweigerten ihm den Dienst. Hendrik schwankte eine Sekunde lang; stand darin still; wischte sich mit der zitternden Hand Jen Schweiß von der Stirne.

«Was machst du für Scherze?» grollte sie. «Du hörst auf, ohne meine Erlaubnis?! Das wäre ja das Allerneueste und noch das Schönere!»

Sie zielte mit der roten Peitsche nach seinem Gesicht; er duckte sich noch rechtzeitig, um diesem fürchterlichen Schlage zu entgehen. Abends ins Theater kommen mit einer blutigen Strieme von der Stirn bis zum Kinn: das wäre denn doch etwas zuviel gewesen. Trotz der be­nommenen Stimmung, in der er sich befand, blieb ihm klar, daß er sich dergleichen keinesfalls leisten durfte. «Laß das!» sagte er kurz. Während er sich schon von ihr abwendete, fügte er noch hinzu: «Genug für heute.»

Sie verstand, daß dies kein Spaß mehr war. Ohne etwas zu antworten, mit einem erleichterten kleinen Seufzer, schaute sie ihm zu, wie er in seinen üppig gefütterten, rot­seidenen, übrigens an mehreren Stellen zerrissenen Schlaf­rock schlüpfte und sich auf dem Ruhebett niederließ.

Das Sofa, welches man für die Nacht als Bett her­richten konnte, war tagsüber bedeckt mit Tüchern und bunten Kissen. Neben dem Kanapee2 stand die Lampe auf dem runden, niedrigen Rauchtisch.

«Mach das grelle Licht aus!» bat Hendrik mit der sin­genden, wehleidig-melodischen Stimme. «Und komme zu mir, Juliette!»

Durch das rosige Halbdunkel schritt sie auf ihn zu. Als sie neben ihm stehenblieb, seufzte er leise: «Wie gut!»

«Hat es dir Spaß gemacht?» fragte sie ziemlich trocken. Sie hatte sich eine Zigarette angezündet und

1 frenetisch — íåèñòîâûé, áåøåíûé

1 das Kanapee -s, -s ['kanape] frz. äèâàí, êàíàïå

 

reichte auch ihm Feuer; er benutzte zum Rauchen die lange, ordinäre Zigarettenspitze, das Geschenk der Rahel Mohrenwitz. «Ich bin völlig erledigt», sagte er. Daraufhin verzog sie ihren gewaltigen Mund zu einem gutmütigen und verständnisvollen Lächeln. «Das ist recht», sagte sie, wobei sie sich über ihn beugte.

Er hatte seine breiten, bleichen, rötlich behaarten Hände auf ihre edlen, von schwarzer Seide überglänzten Knie gelegt. Träumerisch sprach er: «Wie häßlich meine gemeinen Hände auf deinen herrlichen Beinen ausse­hen, Geliebte!»

«An dir ist alles häßlich, mein Schweinchen — Kopf, Füße, Hände, und alles!» versicherte sie ihm mit einer knurrenden Zärtlichkeit.

Sie ließ sich neben ihn hingleiten. Das graue Pelzjäck­chen hatte sie abgelegt; darunter trug sie eine knappe, hemdartige Bluse aus einem stark glänzenden, rot und schwarz karierten Seidenstoff.

«Ich werde dich immer lieben», sagte er erschöpft. «Du bist stark. Du bist rein.»

Dabei schaute er, unter gesenkten Lidern, auf ihre harten und spitzen Brüste, die sich unter dem eng anlie­genden, dünnen Gewebe deutlich abhoben.

«Ach, das sagst du nur so», meinte sie ernst und ein wenig verächtlich. «Das bildest du dir nur ein. Manche Leute haben das — daß sie sich immer so was einbilden müssen. Sonst fühlen sie sich nicht wohl.»

Er tastete mit seinen Fingern nach ihren hohen und geschmeidigen Stiefeln. «Aber ich weiß doch, daß ich dich immer lieben werde», flüsterte er, nun mit ge­schlossenen Augen. «Nie wieder finde ich eine Frau wie dich. Du bist die Frau meines Lebens, Prinzessin Tebab.»

Sie wiegte mißtrauisch ihr dunkles, ernstes Gesicht über seinem weißen, ermüdeten. «Und dabei darf ich nicht einmal ins Theater gehen, wenn du spielst», sagte sie unzufrieden.

Er hauchte: «Trotzdem spiele ich nur für dich — nur für dich, meine Juliette. Ich hole bei dir meine Kraft.»

 

«Aber ich lasse mir's nicht verbieten», sagte sie trot­zig- «Ich gehe ins Theater, ob du es mir erlaubst oder nicht. Nächstens einmal sitze ich im Parkett, und dann lache ich laut, wenn du auf die Bühne kommst, mein

Affe.»

Er sagte hastig: «Mach keine Witze!» Dabei hatte er

erschreckt die Augen geöffnet und sich halb aufgerichtet. Der Anblick seiner Schwarzen Venus schien ihn wieder zu beruhigen. Er lächelte, und nun begann er sogar zu rezi­tieren.

«Viens-tu du ciel profond ou sors-tu de 1'abime — î Beaute?»

Kommst du vom Himmel, steigst du auf aus tiefen Schlünden, î Schönheit?

«Was ist denn das für ein Quatsch?» fragte sie unge­duldig.

«Das ist aus diesem herrlichen Buch da», erklärte er ihr, und deutete auf eine gelb broschierte französische Edition1, die neben der Lampe auf dem Rauchtisch lag — es waren «Les Fleurs du Mal» von Baudelaire.*

«Das verstehe ich nicht», sagte Juliette verdrossen. Er aber ließ sich nicht stören in seiner Ekstase, sondern fuhr fort:

«Tu marches sur des moris, Beaute, donl tu te moques; De tes bijoux lTIorreur n'est pas le moins charmant, Et le Meurlre, parmi tes plus cheres breloqucs, Sur ton ventre orgucilleux danse amoureusement.»2

1 die Edition — der Verlag

- Dein Weg, î Schönheit, führt dich spottend über Leichen, Das Grauen dient dir als Gesehmeid und schenkt dir Lust, Doch mit dem Mord kann sich kein andrer Schmuck

vergleichen, Er tanzt als Kronjuwel verliebt auf deiner Brust.

Charles Baudelaire, «Les Fleurs du Mal» (Die Blumen des Bösen): aus der «Hymne a la Beaute» (Hymne auf die Schönheit), in der Übertragung von Carl. Fischer.«Wie magst du nur so blöd lügen», sagte sie und be­rührte mit ihrem dunklen und schlanken Finger seinen redenden Mund.

Er aber sprach weiter, immer mit demselben, melan­cholisch singenden Ton: «Du erzählst mir nie davon, wie du früher gelebt hast, Prinzessin Tebab. Ich meine: in deinem Erdteil...»

«Ich kann mich an nichts mehr erinnern», sagte sie kurz. Dann küßte sie ihn — vielleicht nur, um ihn daran zu hindern, noch länger indiskrete und poetische Fragen zu stellen: ihr weit geöffneter, tierischer Mund mit den dunklen, rissigen Lippen und der blutroten Zunge näher­te sich langsam seinem gierigen, fahlen Mund.

Sowie sie ihr Gesicht wieder von dem seinen erhoben hatte, redete er weiter. «Ich weiß nicht, ob du mich vor­hin verstanden hast, als ich sagte, daß ich nur für dich und nur durch dich spiele.» Während er so weich und träumerisch sprach, führte sie ihre geübten Finger durch sein schütteres Seidenhaar, auf dessen Fahlheit die Lam­pe ein wenig Goldglanz zauberte. Sie behandelte sein feines Haar auf eine nicht eigentlich zärtliche, sondern auf eine ernste und sachliche Art, als wollte sie es frisie­ren. «Ich halie es ganz wörtlich gemeint», fuhr er fort. «Wenn ich den Leuten ein bißchen gefalle, wenn ich Erfolg habe — dir verdanke ich ihn. Dich zu sehen, dich zu berühren, Prinzessin Tebab: das ist wie eine Wunder­kur für mich... etwas Herrliches, eine Erfrischung ganz ohnegleichen...»

«Ach, wenn du nur immer schwatzen und lügen kannst», sagte sie mütterlich. «Du bist doch der drollig­ste1 kleine Dreckhaufen, dem ich jemals begegnet bin.» Sie hatte, um ihn nur zum Schweigen zu bringen, ihre beiden Hände auf sein Gesicht gelegt; die breiten Arm­bänder klirrten an seinem Kinn; auf seinen Wangen ruh­ten die hellen Innenflächen ihrer Hände. Da endlich ver­stummte er. Er rückte seinen Kopf auf dem Kissen zu-

1 drollig — çàáàâíûé, ñìåòíîé

1ë

recht, als wollte er einschlafen. Gleichzeitig schlang er mit einer hilfesuchenden Gebärde seine beiden Arme um Jas schwarze Mädchen. Während sie ganz still in seiner Umarmung hielt, ließ sie die Hände auf seinem Gesicht lie°en, als müßte sie ihn davor bewahren, das zärtlich-höhnische Lächeln zu sehen, mit dem sie jetzt auf ihn niederbückte.

III   Knorke

"4

Die Saison1 ging weiter, es war keine schlechte Saison für das Hamburger Künstlertheater. Oskar H. Kroge war entschieden ungerecht gewesen, als er gesagt hatte, Höf­gen werde überzahlt mit tausend Mark Monatsgehalt. Ohne diesen Schauspieler und Regisseur hätte das Insti­tut gar nicht auskommen können; er leistete Enormes, war so unermüdlich wie einfallsreich. Er spielte alles, ju­gendliche Rollen und alte: nicht nur Miklas hatte Anlaß, auf ihn eifersüchtig zu sein, sondern auch Petersen, und sogar Otto Ulrichs hätte ihn gehabt; aber der war mit wichtigeren Dingen beschäftigt und nahm den bürgerli­chen Theaterbetrieb nicht ganz ernst. Höfgen gewann sich die Kinderherzen als witziger und schöner Prinz im Weihnachtsmärchen; die Damen fanden ihn unwider­stehlich in französischen Konversationsstücken und in den Komödien von Oscar Wilde*; der literarisch interes­sierte Teil des Hamburger Publikums diskutierte seine Lei­stungen in «Frühlings Erwachen», als Advokat in Strind-bergs* «Traumspiel», als Leonce in Rüchners* «Leonce und Lena». Er konnte elegant sein, aber auch tragisch. Er haue das «aasige» Lächeln, aber auch den Leidenszug an den Schläfen. Er bezauberte rhit übermütigem Esprit-, er imponierte mit herrisch gerecktem Kinn, abgehack­tem Kommandoton und stolz-nervösen Gebärden; er

 die Saison — [se'zo] frz.

- der Esprit -s, -s [es'pri:] frz. îñòðîóìèå, òîíêèé óì

 

(Ïðîäîëæåíèå ñëåäóåò. Áóäåì áëàãîäàðíû Âàì çà ëþáóþ ïîìîùü â âû÷èòûâàíèè ýòîãî ôàéëà)